Naschmarkt
und aus gehen. Berühmte Dramatiker, auf dem Weg zu ihren Uraufführungen im Burgtheater. Weniger berühmte Liebesromanautorinnen und Phantasten, die darauf hoffen, sich mit Hilfe der Magie englischer Mince Pies in die nächste Rowling oder Pilcher zu verwandeln. Brotlose Poeten, verträumte Romantikerinnen, satirische Essayisten und lässige Drehbuchautoren.
Sie alle geben sich Tag für Tag die Klinke in Form eines Messingäffchens in die Hand und treten durch die unscheinbare Glastür in der Wiener Schleifmühlgasse, hinein in das Königreich von Lady Lydia Rocksbridge.
Der Laden ist nicht groß. Doch die Enge, gepaart mit dem Zauber des Lichtes, das durch die hohen Fenster mit der Buntglasverzierung fällt, verleiht ihm eine wundervoll heimelige Atmosphäre. Eine Verkaufstheke mit Glasvitrine, in der die nach englischem Originalrezept gebackenen Kuchen, Scones, Cookies und Sandwiches ausgestellt sind, befindet sich linker Hand. In hübschen, alten Dosen dahinter lagert der immense Bestand an englischem Tee, den Lady Lydia als Kennerin aus den verschiedenen Grafschaften ihrer Heimat importiert.
Im hinteren Bereich, durch drei Stufen etwas erhöht, gibt es mehrere Bücherregale mit einer Auswahl an britischen Literaten, zeitgenössischen Wiener Autoren, Klassikern sowie diversen englischen Kochbüchern. Attraktion dieser Miniaturbibliothek ist ein winziger Kamin mit gemütlicher Sitzgarnitur und Tiffany-Stehlampe.
Vorne, direkt hinter dem stets blitzblank geputzten Schaufenster, sind bequeme Stühle an kleinen, runden Tischchen mit roten Spitzendecken verteilt. Der beste Platz, um die Passanten in der Schleifmühlgasse zu beobachten, die mit ihren Einkäufen vom nahen Naschmarkt kommen, oder um sich Lady Lydias Spezialität servieren zu lassen: das
Pies & Pages Literaturmenü,
bestehend aus der bevorzugten Schwarzteemischung, dem
Pie of the Day
sowie einem persönlichen Buchtipp der Gastgeberin.
Meine Mutter hat eine ausgezeichnete Menschenkenntnis. Sie sieht den Kunden auf den ersten Blick deren Buchgeschmack an, weshalb das Menü bei begeisterten Lesern so beliebt ist. Für die armen Dichter gibt es das
Pies & Pages Poetenmenü,
das aus einer Kanne Leitungswasser mit frischer Minze, Waldhonig und Ingwer, einer großen Portion
Pie of Yesterday
sowie einem Büchlein besteht, in welchem der Künstler, als Bezahlung, ein Gedicht hinterlässt.
Die mittlerweile etwa fünfzig Bände der
Pies & Pages Poetry
stehen in einem Regal neben der Verkaufstheke und sind hochgeschätzte Schmöker. So mancher heute berühmte Name ist darin zu finden.
Hinter der Theke führt eine eTür in die geräumige Schauküche, wo Lady Lydias Kochkurse stattfinden, daneben ein Esszimmer für fünfzehn bis zwanzig Personen, populärer Treffpunkt der kochenden Elite Wiens. Mikis Single-Fusion-Sushikochen ist immer auf Monate voraus ausgebucht. Meine japanische Freundin ist ein Naturtalent, wenn es darum geht, unterschiedliches Rohmaterial zusammenzuführen, seien es nun Fische oder einsame Herzen.
Im Winter, sobald im Kamin ein Feuer flackert, ist das Lokal täglich von neun Uhr früh bis sieben Uhr abends voll. Dann brodelt in der Küche stets ein riesiger Topf mit
Lydias Spezialporridge,
und sie und Miki kommen kaum mit Servieren, Plaudern und Beraten nach.
Ich schrieb fast alle meine Hausaufgaben an einem Kindertischchen zwischen den Bücherregalen des
Pies & Pages
und schlief an so manchem Abend, wenn Lady Lydia Kochkurse abhielt oder Abrechnungen machen musste, über einem Buch auf dem Sofa vorm Kamin ein. Unsere Wohnung befand sich zwar nur zwei Häuser weiter im ersten Stock, doch sie war lediglich vierzig Quadratmeter groß, verteilt auf drei Zimmer. Daher diente uns der Laden zugleich als Salon und Esszimmer. Lady Lydia hat ihn und die Wohnung seinerzeit für das Geld gekauft, mit dem mein Vater, der gut verdienende Profifußballer, sich von seiner Verantwortung freigekauft hatte. Bis auf den Adelstitel konnte die Familie Rocksbridge nämlich keine Vermögenswerte vorweisen, weshalb meine Mutter sich alles hart erarbeiten musste.
Das
Pies & Pages
ist die Erfüllung ihres Traumes, in den sie jeden Cent sowie jede freie Minute der letzten dreißig Jahre investiert hat. Inzwischen könnte sie sich längst ein Penthouse in der Innenstadt leisten, bei den Umsätzen, die sie so macht, aber sie steckt ihr Geld lieber in luxuriöse Reisen in exotische Länder, die sie sich dreimal im Jahr gönnt. Die kleine Wohnung hat sie behalten, sie
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