Naschmarkt
ist ohnehin nur zum Schlafen dort.
An meinem achtzehnten Geburtstag überreichte sie mir ein Sparbuch mit mehr als hunderttausend Euro – die exakte Summe aller Alimente, die sie je für mich bekommen hatte – und sagte: »Darling, dieses Buch ist dein Daddy. Mach damit, was du willst. Wenn du möchtest, reise um die Welt, fang eine teure Ausbildung an, fahre in einem Balloon über die Erde, aber versprich mir, dass du nie von einem Mann abhängig sein wirst.«
Ich kaufte mir eine Wohnung nicht weit vom
Pies & Pages,
und wer mich fragt, warum ich meine verrückte, chaotische, anstrengende Mutter so abgöttisch liebe, dem erzähle ich diese Geschichte.
»
Darling
, glaubst du, diese netten alten Damen haben
Sex?«,
flüstert sie mir nun zu, während sie den Pulk von Menschen um Stellas Tisch beobachtet.
»Mummy!«
»Ich frage ja nur. Hast du gesehen, wie ihre Augen leuchteten, als es um die Lava ging?«
»Vielleicht stehen sie auf Naturkatastrophen.«
Sie sieht mich von der Seite an und streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr.
»Dorothy?«
»Was?«
Ich zupfe mir die Strähne wieder ins Gesicht. Sie zögert.
»Hast
du
Sex?«
»Können wir bitte das Thema wechseln?«
»Es ist nur …«, sie dreht mich zu sich und lächelt mich unsicher an, »manchmal mache ich mir Sorgen. Eine Frau hat – wie sagt man – Bedarf?«
»Du meinst Bedürfnisse.«
»Bedürfnisse, ja. Du arbeitest zu viel. Und du hast deine Nase immer in Büchern. Das war schon in der Schule so. Die anderen Mädchen haben geküsst, und Dotti hat über das Küssen gelesen. Dotti saß in der Ecke mit Kipling und Hesse statt mit Bobby und Joe.«
Miki, die gerade mit einem Tablett voller Teetassen vorbeihuscht, schenkt mir ein mitleidiges Lächeln.
»Mummy, kein Mensch heißt hier Bobby oder Joe.«
Sie ignoriert meinen Einwand.
»Erinnerst du dich an diesen netten Jungen, Gerry oder Greg oder so, der täglich in den Laden kam, um
Chocolate Cookies
zu kaufen?«
»Gregor, Mummy.«
Sie strahlt.
»Ja, Gregor Melzer. Der hat immer zu dir rübergeschaut. Aber hast du einmal die Nase aus
Dorian Gray
gehoben?«
»Das ist fünfzehn Jahre her, Mummy. Ich musste ein Referat über Oscar Wilde halten.«
Meine Mutter seufzt und legt die Stirn in lauter kleine Falten. Stellas tiefes, dröhnendes Lachen erfüllt den Raum, doch mir ist plötzlich ziemlich kalt. Daran ändert auch das flackernde Kaminfeuer nichts.
»Dorothy, ich will, dass du
happy
bist.«
»Es geht mir gut, Mummy.«
Sie nimmt mich in den Arm.
»Ich bin vielleicht fünfundzwanzig Jahre älter als du, aber ich weiß, was eine Frau braucht, damit es ihr gutgeht.«
Ich will mich losmachen, doch sie hält mich fest.
»Man kann lieben und trotzdem unabhängig sein,
Darling
«, sagt sie sanft. »Ich weiß, wovon ich rede.« Sie küsst mich auf die Wange und lässt mich los. »Und jetzt brauche ich auch so ein
Vulkania
-Buch.«
»
Vesuvia
, Mummy.«
Sie hört mich nicht mehr, denn sie ist bereits auf dem Weg zu Stella und den Freundinnen der quellenden Lava. Ich sehe ihr kopfschüttelnd nach.
»Vollmilchschokolade«, sagt eine Stimme hinter mir. Ich drehe mich um. Am hintersten Tischchen, gleich beim Schaufenster sitzt eine alte Frau und lächelt mich an. Sie trägt ein lilageblümtes Kleid, hat darüber einen beigen Wollmantel an und eine riesige Brille auf der Nase. Ihre dünnen, graubraunen Haare sind adrett zu Löckchen gedreht. Neben ihren Füßen hockt ein kleiner, brauner Pekinese, dessen Knopfaugen den Kuchen auf dem Teller der Dame fixieren.
Ich sehe mich irritiert um.
»Äh, sprechen Sie mit mir?«
Sie nickt, immer noch lächelnd.
»Die Milchschokolade wurde 1839 in Dresden erfunden. Es gibt nichts Besseres für die Bedürfnisse einer Frau.«
»Milchschokolade?«
»Am besten die Sorte, die auf der Zunge schmilzt. Ich hatte in meinem Leben eine ganze Menge davon. Leider habe ich Diabetes bekommen, seither kann ich nur noch die Spezialsorten essen. Ekliges Zeug. Aber ich erinnere mich an richtige Milchschokolade. Und an Kuchen.«
Sie teilt mit der Gabel ein Stück vom Kuchen auf ihrem Teller ab, nimmt es zwischen Daumen und Zeigefinger, riecht kurz mit geschlossenen Augen daran und reicht es dem Pekinesen, der es gierig schluckt.
»Ich bin Annili«, sagt sie, indem sie mir die andere, nicht hundesabberkontaminierte Hand hinstreckt, »und Sie müssen Dotti sein.«
Ich schüttle die Hand, die sich sehr weich und warm anfühlt.
»Kennen wir uns?«
»Ich habe
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