Naschmarkt
Ist es möglich, dass er noch ein anderes Interesse an mir hat? Verbirgt sich hinter der harten, cholerischen Fassade ein sentimentaler Schwärmer? Er war für mich stets so etwas wie ein väterlicher Freund, ein bewundertes Idol. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er mir gegenüber romantische Gefühle hegt.
»Auf keinen Fall.«
Ich nehme einen Schluck Sonnenschein und betrachte scheinbar interessiert das Plakat von Christines letztem Auftritt, das sie an ihren Kühlschrank geklebt hat. Eine Sommerproduktion von
Les Misérables
in irgendeinem Burghof hinter den sieben Bergen. Christine singt im Musicalchor, was ihr wegen ihres Namens schon diverse humoristische Bemerkungen beschert hat. Ob sie denn mit dem Phantom der Oper näher bekannt sei, wollte mal ein Regisseur von ihr wissen. Ihre Demonstration mit dem indischen Lasso hat ihn zu Tode erschreckt.
»Vielleicht solltest du djfleming via Annonce suchen. Überschrift: Große Schuhe, was nun?« Sie grinst.
Mir ist nicht nach Humor zumute. Ich habe von Anfang an gewusst, dass diese Internetdatinggeschichte keine gute Idee ist. Ich glaube nicht an Datenschutz. Irgendein Missbrauch wird immer getrieben. Wie ist es sonst möglich, dass ich seit meiner Anmeldung bei
Literally in Love
bereits mehr Post im Spamfilter habe als Sommersprossen im Juli? Diese Nachricht von dem mysteriösen djfleming war der letzte Tropfen in dem verflixten Fass der vergangenen zwei Wochen.
»Es waren wirklich über vierhundert Kontaktanfragen seit gestern Abend?«
Christine sieht mich ratlos an.
»Vierhundertvierzig. Einundvierzig mit unserem djfleming, um genau zu sein. Mein Blog scheint die Userzahlen von
Literally in Love
dermaßen erhöht zu haben, dass allein die heutige Tagesaktivität oberhalb der Gesamtaktivität der letzten drei Monate liegt. Kannst du dir das vorstellen?«
»Beim besten Willen nicht.«
Christine schüttelt den Kopf. Sie ist siebenunddreißig, kinderlos und ohne jegliche Ambition, einen Mann in ihr Leben zu lassen. Das höchste der Gefühle ist ein Handwerker, den sie an ihre Installationen lässt, oder ein Möbelpacker, der Kisten schleppen darf. Mit einigen männlichen Kollegen im Musicaltheater ist sie befreundet, selbstverständlich phantastisch aussehend und ebenso selbstverständlich homosexuell. Sie findet Liebe total überbewertet. Ihren Kitzel holt sie sich vorzugsweise in den fiktiven Welten von Romanen oder TV -Serien, wobei sie einen Hang zu den zweitinteressanten Charakteren hat, um ihre eigentlich romantische Natur auszuleben.
Ein Kalender mit nackten Männeroberkörpern schmückt ihr Badezimmer, einziger Hinweis darauf, dass sie dem anderen Geschlecht überhaupt etwas abgewinnen kann.
»Dotti«, hat sie einmal zu mir gesagt, »ich habe ein fettes Sparbuch sowie mehrere lukrative Fonds nur für den Fall, dass irgendein kluger Japaner den perfekten Männerroboter erfindet. Optisch ansprechend, akkubetrieben und zusammenklappbar neben dem Bügelbrett zu verstauen.«
Christine ist eine Plusnull aus Überzeugung. Dafür teilt sie ihre Wohnung mit etwa dreiundzwanzig Süßwasserfischen, einer Wasserschildkröte namens Calcutta und mit etwas, das ich noch nicht wirklich identifiziert habe, das jedoch in einem mannshohen Terrarium haust. Ich studiere das Grünzeug, das den Behälter von oben bis unten füllt.
»Sag mal, was ist da drinnen? Züchtest du jetzt Blätter?«
»So ist es. Wandelnde Blätter, um genau zu sein.
Phyllium Giganteum.
«
»Das sind
Tiere?
Amphibien oder so etwas?«
»Insekten, Dotti, Insekten. Aber weißt du, was das Beste an ihnen ist?«
Ich trete näher und versuche erfolglos, Lebewesen von Botanik zu unterscheiden. »Dass sie einander auffressen, weil sie sich nicht einmal gegenseitig von Blättern unterscheiden können?«
»Unsinn!« Christine zählt, etwas besorgt, unauffällig ihr Blattwerk. »Das Beste ist, dass sie keine Männchen brauchen.«
»Wie bitte?«
»Sie pflanzen sich eingeschlechtlich fort. Man sagt Jungfernzeugung dazu.«
»So wie Maria mit Jesus?«
»So ähnlich. Die Eizellen müssen nicht befruchtet werden. Verstehst du?«
»Willst du damit sagen, dass deine Phyllidingsda lauter alte Jungfern sind, die sich ohne Sex vermehren?«
»Richtig. Ist das nicht großartig? Es gibt so gut wie keine männlichen Wandelnden Blätter, Phyllium Giganteum, nicht Phyllidingsda. Was beweist, dass die Daseinsberechtigung von Männern sich auf die Fortpflanzung beschränkt. Fällt diese Funktion weg,
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