Naschmarkt
werden sie, schwupps, wegevolutioniert.«
O mein Gott! Steuern wir Frauen auf ein Phyllium-Giganteum-Dasein zu, ohne es zu wissen? Und würde das, sollte diese Information je in maskuline Hände gelangen, den größten Weltkrieg von allen auslösen? Phylliumageddon?
»Aber«, wende ich ein, »wir Menschen können uns nicht eingeschlechtlich fortpflanzen.«
»
Noch
nicht.«
Christine lächelt versonnen.
»Denk es mal anders, Dotti: Angenommen, wir bräuchten Sex nicht weiter zur Fortpflanzung, sondern nur noch zum Vergnügen, was wäre das Resultat?«
»Keine Ahnung. So etwas Ähnliches wie bei den Hippies? Freie Liebe? Anarchie?«
»Anfänglich vielleicht. Die Partnerwahl wäre nicht mehr auf Nestbau und Familienerhaltung ausgelegt, sondern würde auf purer Lust und Liebe basieren. Damit würden die Männer ausscheiden, die einfach nicht gut darin sind. In unseren Betten landen nur noch die, die die Kunst beherrschen, uns zu befriedigen.«
Ich sehe eine Kopfkinoversion von Jude Law, Patrick Dempsey und Michael Fassbender vor mir, die, an Samtkordeln angeleint in einer riesigen Arena voller Frauen um die Gunst der Phylliumkönigin wrestlen. Christine scheint Ähnliches zu beschäftigen. Wir sehen uns an und müssen grinsen.
»Keine schlechte Vorstellung.«
»Richtig. Aber auf lange Sicht gesehen, wäre Sex für die Evolution nicht mehr nötig. Und du weißt, was mit Dingen passiert, die evolutionstechnisch überholt sind?«
Sie streckt den Zeigefinger aus und knickt ihn in der Mitte ab.
»Das Bedürfnis danach würde mit der Zeit verschwinden. Nach, sagen wir, fünf bis sechs Jahrhunderten. Dann sind die Frauen längst in der Überzahl, weil sie die körperlichen Voraussetzungen zur Vermehrung mitbringen. Und die Männer?« Christine schnippt mit den Fingern. »Futsch!«
»Das ist verrückt.«
»Aus jetziger Sicht schon, klar, es scheint bei Säugetieren schwierig zu sein, wegen der ganzen Vererbungssache mit den männlichen und weiblichen Chromosomen. Aber die Forscher sind am Ball, darauf kannst du dich verlassen.«
»Wohl eher die Forscher
innen.
«
Ich entferne mich so weit wie möglich vom Terrarium. Womöglich ist Jungfernzeugung ansteckend.
»Noch Tee?«
Ich nicke und setze mich wieder an den Tisch, wo Christine fröhlich summend mehr Sonnenschein in meine Tasse gießt. In meinem Kopf arbeitet es.
»Und was ist mit der Liebe?«
»Was soll damit sein? Liebe ist ein paarungsunabhängiges Gefühl. Nicht zu verwechseln mit Lust. Du musst das globaler sehen.«
Das ist er, der Moment! Nicht einfach einer von vielen Momenten oder eine neue Version von Dottis Kopfkino, sondern ein ganz konkreter, entscheidender Moment. Ich habe nicht umsonst Germanistik studiert, aber ich hätte nie gedacht, dass es ihn im realen Leben geben könnte.
»Katastase«, flüstere ich.
»Nein,
Teekanne,
glaube ich«, antwortet Christine und begutachtet die Verpackung von Sonnenschein.
»Das erregende Moment, verstehst du?«
»Bahnhof, Dotti, nichts als Bahnhof.«
»Als du gerade von den Phyllium-Tieren gesprochen hast, da hat es in meinem Hirn mehrfach laut geklingelt.«
»Du solltest das untersuchen lassen. Ich hatte mal einen Hörsturz, mit Tinnitus in höchster Frequenz, du, ich sag dir …«
»Nicht so ein Klingeln. Mehr ein Gong, wie er in den japanischen Shinto-Schreinen hängt und den man schlagen muss, um die Aufmerksamkeit der Götter zu erlangen.«
»Hast du irgendwas in deinen Tee getan?«
»Nein. Aber gerade, als ich mich wieder hinsetzte, hatte ich auf einmal eine Eingebung, die etwas mit deinen Wandelnden Blättern zu tun hat. Hör zu, ich frage mich schon seit ein paar Tagen, was dieser ganze Hype um meine Kolumne und meinen Blog soll. Pluskatze, ich bitte dich, Showjournalismus von der übelsten Sorte, inspiriert von einem Kater, der sich besser mit meiner Computertastatur auskennt als ich. Aber das war es gar nicht. Es ging um was anderes.«
»Und zwar?«
Ich beuge mich über den Tisch zu Christine. Vor Begeisterung und Aufregung zittert meine Stimme, als ich es laut ausspreche:
»Meine Kolumne, meine blöde, kleine Pluskatze-Kolumne war so etwas wie die Katastase für die Frauenwelt.«
»Katawas?«
»Hast du im Deutschunterricht geschlafen? Der verdichtete Knoten des griechischen Dramas, das erregende Moment, der Punkt der Geschichte, wo die Komplikationen beginnen.«
»Du meinst eine Art Offenbarung?«
»Nein, nicht im religiösen Sinn, sondern eher so, wie ihn geschickte Dramaturgen
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