Naschmarkt
das änderte sich auch nicht mit zunehmender Körpergröße.
Dir kann ich es ja sagen, Du verstehst bestimmt, was ich meine: Man sieht sich selbst nicht wachsen. Sogar, wenn man tagelang vor einem Spiegel ausharren würde, man könnte keinen Unterschied feststellen. Da waren also nur die Betonfläche, die Betonhäuserblocks und mein unbemerkt wachsendes Ich. Damals hätte ich beinahe aufgehört, an das dauernde Wachstum zu glauben. Erst als sie den Wohnkomplex abrissen und ich nach all den Jahren wieder zu der großen Betonfläche spazierte, bemerkte ich die Risse. Überall war der Beton gebrochen, und in diesen Bruchstellen, Du ahnst es, begann Gras zu sprießen. Seither kehre ich jeden Tag zurück, und jeden Tag ist es ein Stück gewachsen. Es ist nun fast schon so hoch wie meine Hand lang ist. Und heute Morgen, als ich dort auf dem rissigen Betonplatz stand, begriff ich, dass es nicht nur das Gras ist.
Alles wächst, auch wenn wir es nicht sehen können. Unsere Gedanken, unsere Ideen, unsere Gefühle und vielleicht sogar unsere Füße.
Lass uns weiter Schuhe kaufen, die ein wenig zu groß sind, und an das Wachstum glauben. Immerhin wissen wir nun voneinander; das ist mehr, als wir gestern wussten.
Dir verbunden,
djfleming
»Schuhe? Du sollst dir Schuhe kaufen? Zu große Schuhe?«
»Ich soll nicht, sondern ich tue es seiner Meinung nach schon.«
»Und?«
»Was und?«
»Tust du es?«
Christine sieht mich über den Rand ihrer riesigen Teetasse hinweg gespannt an. Dabei hat sie die Lippen gespitzt, wie sie es immer tut, wenn sie auf eine Antwort wartet.
»Nun ja, das ist nicht meine Schuld«, verteidige ich mich, »als Kind habe ich dauernd zu große Schuhe getragen, weil meine Mutter meinte, dass ich da hineinwachse. Du kennst sie ja, alles muss möglichst praktisch und mehrfach verwendbar sein. Meist haben die Schuhe jedoch bereits vor dem Stadium der perfekten Passgröße die Sohlen gestreckt. Aber ich bin diese Angewohnheit nie losgeworden. Jeans zum Beispiel: Ich kaufe immer Jeans, die schon im Geschäft bequem sitzen. Verkäuferinnen haben mich schon angefleht, eine Größe kleiner zu nehmen, weil Jeans sich beim Tragen nun mal dehnen, doch ich schlage alle Ratschläge in den Wind. Darum brauche ich Gürtel.«
»Aber Schuhe?«
»Ich gehe vom Worst-Case-Szenario aus«, verteidige ich mich weiter. »Also vom denkbar kältesten Wintertag, an dem, sagen wir, minus zwanzig Grad herrschen. Dann wäre ich gezwungen, zwei Paar dicke Socken über den Strümpfen zu tragen. Ergo kaufe ich Schuhe immer so, dass sie mir auch mit einer Dreifachschicht Fußbekleidung noch passen, verstehst du?«
Christine schüttelt den Kopf und füllt unsere Tassen nach. Der Tee nennt sich »Guten Morgen, Sonnenschein«. Es handelt sich um eine jener parfümierten Früchtemischungen im Beutel, die meine Mutter für den Untergang jeglicher Teekultur hält. »Metallklammern, guter Gott«, höre ich förmlich ihr entsetztes Quieken.
Mir ist es gleich, selbst die Tatsache, dass Christine das Teewasser im Mikrowellenherd heiß macht, mit bereits darinhängenden Teebeuteln, entlockt mir nicht einmal ein Seufzen. Erstens kenne ich meine Freundin nun schon lange genug, um mich über solche Kleinigkeiten nicht mehr aufzuregen. Zweitens bin ich seit dem Wochenende in einem zutiefst verstörten Zustand, aus dem mich nur ein Vormittag mit dem schlechten Tee und dem wunderbaren Pragmatismus einer guten Freundin zu retten vermag.
Was am Montag im Büro los war, nachdem mein
Mauerblümchentest
im Blog erschienen ist, lässt sich nur schwer erklären. Es begann damit, dass mich sämtliche Kolleginnen mit Buchstaben begrüßten und es Diskussionen darüber gab, wer ein echtes Mauerblümchen war und wer nicht. Praktisch über Nacht hatte ich eine vierstellige Summe von Blog-Abonnenten, an die dreihundert Kommentare unter dem letzten Artikel, Hunderte neuer Follower auf Twitter und – wie mir
Literally in Love
per E-Mail mitteilte – eine enorme Userexplosion auf der Plattform. Ganz Österreich schien plötzlich im Online-Datingfieber zu sein. Es gab Berichte über das Mauerblümchenphänomen in mehreren Zeitungen, eine Kurzmeldung im Vorabendmagazin des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sowie ein einstündiges Special zum Thema Singles in der Sendung eines der populärsten Radiomoderatoren des Landes.
Ramy Kareem, der dank einer TV -Tanzsendung die Ehren eines B-Promi-Status errungen hat, will sogar am Montag einen Livechat
Weitere Kostenlose Bücher