Naschmarkt
Blumenstickereien und einige Ölgemälde mit Frauenmotiven. In der Mitte des Zimmers steht ein massiver, runder Esstisch, der, ebenso wie drei der vier Stühle, mit Stapeln von Zeitungen bedeckt ist.
Annili scheint jedes Printmedium des Landes abonniert zu haben, hinkt aber mit ihrer Lektüre etwas hinterher, denn laut der Ausgabe von
Stars und Stories,
die obenaufliegt, ist Michael Jackson gerade verstorben.
»Ist das nicht tragisch?«, kommentiert Annili meinen Blick, als sie sich mit einem Metalltopf an den Tisch setzt und weiter Mandeln schält, »da hat der Mann so viel Geld in sein Äußeres investiert, und dann stirbt das ganze Kunstwerk mit ihm.«
»Äh, Annili, er ist jetzt seit über zwei Jahren tot.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber tragisch ist es trotzdem.«
Sie schüttelt bedauernd den Kopf.
»Bringt es denn irgendwas, die Nachrichten von vor zwei Jahren zu lesen? Was heute in der Zeitung steht, ist doch morgen schon Geschichte.«
Zumindest hat man mir das im Publizistikstudium so beigebracht.
»Eben, Dotti. Andere Leute lesen historische Romane oder Geschichtsbücher. Ich lese jede Zeitung vollständig. Von der ersten bis zur letzten Seite. Dadurch bin ich zwar ein Stück zurück, aber ich versäume nichts, das passiert ist. Früher war ich natürlich schneller, doch heutzutage macht mich Lesen müde.«
Ich kann sie mir gut vorstellen, wie sie mit ihrer riesigen Brille auf der Nase und in eine Wolldecke gewickelt über Michael Jacksons Todesmeldung einnickt.
Zum ersten Mal seit dem Beginn dieses furchtbaren Datingexperiments fühle ich mich ruhig und geborgen. Wie früher als Kind, wenn ich krank war und meine Mutter mir Essigumschläge gemacht und Jane Austen vorgelesen hat. In Annilis Wohnung scheint die Zeit stillzustehen. Hier gibt es keine klingelnden Telefone oder surrenden Computer, die live mit der ganzen Welt verbunden sind. Ein betagter Röhrenfernseher ist das einzige moderne Gerät. Die Uhren haben noch Pendel, der Herd funktioniert mit Gas, und das Klo liegt auf dem Etagenflur. Man könnte glatt vergessen, dass irgendwo draußen Menschen rund um die Uhr auf Internetplattformen miteinander kommunizieren und das Leben aus Datentransfer besteht. Ein letztes Paradies.
Wie um mir das Gegenteil zu beweisen, meldet sich genau in dem Moment mein iPhone mit Vogelgezwitscher. Es ist eine SMS von Lorenz.
Weißt du schon, was du anziehst?
Wir sollten unsere Kostüme koordinieren.
Was hältst du von Gandalf und Pippin?
LGL
Seufzend schalte ich das iPhone aus.
»Ein Verehrer?«
Annili steckt sich eine Mandel in den Mund.
»Kollege«, antworte ich. »Annili, darf ich Sie etwas fragen?«
»Natürlich.«
»Wie haben Sie es geschafft?«
»Was denn?«
Ich deute vage um mich herum.
»Das hier. Das alles. So zu sein und so zu leben, wie Sie es möchten. Sie wirken so … rund. In sich ruhend, zufrieden, meine ich, nicht dick. Sie haben all Ihre hübschen Sachen, Ihre Tiere, Ihre Bücher und nichts, was Ihnen fehlt.«
»Aber Dotti, wie kommen Sie darauf? Jedem fehlt irgendetwas.«
Sie lächelt, doch diesmal ein kleines bisschen melancholisch.
»Ich war nicht immer eine betagte Frau in Stützstrümpfen und Wollkleidern, die den lieben, langen Tag alte Zeitungen liest. Alles, was Sie hier sehen, ist Teil meines Lebens. Ein Leben, das ich gelebt habe. Schauen Sie, diese Blume zum Beispiel.« Sie nimmt eine silberne Rose aus einer zierlichen Vase und hält sie vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger als könnte sie jeden Moment zu Staub zerfallen. »Ich habe sie, seit mein Vater mich zum ersten Mal in die Oper ausgeführt hat.
Der Rosenkavalier
bei den Salzburger Festspielen, 1937 , zwei Jahre bevor er in den Krieg musste.
Lotte Lehmann hat wie ein Engel gesungen. Ich war gerade mal dreizehn Jahre alt, und meine Welt war kein bisschen wie die der heutigen Teenager. Aber das ist nicht der Grund, warum ich Ihnen die Blume zeigen wollte. Damals habe ich mich unsterblich in Octavian verliebt und mir von Herzen genau so einen schönen, jungen Kavalier gewünscht, der mich rettet. Mein Vater konnte den Requisiteuren die silberne Rose für mich abschwatzen, und ich habe sie wie ein Heiligtum gehütet. Allerdings ist der richtige Kavalier dazu ausgeblieben. Also habe ich mich arrangiert.«
Sie steckt die Rose vorsichtig zurück in die Vase. Ein paar Falten mehr auf der Stirn, das ist alles, was ihr Gesicht verrät.
»Man kann mit jedem Leben glücklich sein, Dotti. Aber das heißt nicht, dass
Weitere Kostenlose Bücher