Naschmarkt
einem deshalb nichts fehlt oder dass man es stets so geplant hat.«
Neugierig betrachte ich Annili. Ebenso wenig wie ich sie mir als Wohnblock-Basketballstar vorstellen kann, sehe ich sie als schwärmerischen Teenager oder als verliebte junge Frau.
»Haben Sie denn immer allein gelebt?«
»Ich habe sehr spät allein gelebt. Als ich jung war, ist man nicht so einfach daheim ausgezogen und war Single. Es gab nicht mal den Begriff. Sie müssen wissen, ich bin gelernte Krankenschwester und habe meinen Beruf geliebt. Außerdem habe ich meine eigenen Eltern bis zu ihrem Tod gepflegt und natürlich bei ihnen gewohnt. Erst Ende der sechziger Jahre bin ich in diese kleinere Wohnung gezogen. Da war ich schon weit über vierzig. Ein Mauerblümchen«, fügt sie lächelnd hinzu. »Ich hatte noch einen älteren Bruder, der leider vor drei Jahren gestorben ist. Sein Sohn, mein Neffe, kommt oft vorbei und hilft mir. Er hat zwei Kinder, die ich aber selten sehe, weil er geschieden ist.
Ich war mit meinem Beruf verheiratet, und dort, auf der Station, habe ich auch meinen Namen bekommen: Schwester Annili. Alle Kolleginnen und die Patienten nannten mich so. Viele besuchen mich heute noch, mit ihren Enkeln, schicken mir Blumen und Diabetikerschokolade zum Geburtstag oder sprechen mich und Orange auf der Straße an. Ich frage mich nur selten, wie anders mein Leben hätte sein können, wie es wäre, eine eigene Familie zu haben, weil jeder Mensch, der bei mir ein und aus geht irgendwie meine Familie ist.«
Wir sehen uns an, das alte Mauerblümchen und das junge. Da ist etwas in ihrem Wesen, das mich sie bewundern lässt. Man belächelt ja stets die ewigen Jungfern, die das Leben übriggelassen hat, die keiner wollte, die
Spinsters
im Englischen, verschroben und schrecklich armselig. Doch hier sitzt eine Frau in ihren Achtzigern, der man eine gewisse Schönheit von früher noch von den Wangenknochen ablesen kann, die herzlich, klug und voll wunderbarer Erinnerungen ist. Eine Frau, die ein Leben gelebt hat, das nicht schlechter oder besser war als das von Verheirateten und Müttern. Nur anders.
Ich nehme das mittlerweile zimmerwarme Stück Fleisch von meinem Fuß und bewege vorsichtig die Zehen. Der Knöchel ist geschwollen, aber er tut fast nicht weh. Orange bellt und schnuppert interessiert an dem Bein, das ich behutsam auf den Fußboden stelle. Annili erhebt sich mit einiger Mühe von ihrem Stuhl und nimmt mir das Rindfleisch ab.
»Besser?«
»Ich glaube schon.«
Mit ihrer Hilfe schaffe ich es, von der Chaiselongue aufzustehen. Es schmerzt weniger als zuvor.
»Vielen Dank, Annili. Ich hoffe, ich habe Ihnen keine Umstände gemacht.«
»Im Gegenteil. Es war schön, mit Ihnen zu plaudern, Dotti. Kommen Sie mich jederzeit besuchen!«
»Das werde ich«, verspreche ich ihr und humple quer durchs Wohnzimmer. Es wird Zeit, mir ein Taxi zu rufen und nach Hause zu fahren. Ich wähle die Nummer der Taxizentrale, doch in dem Moment, als sich am anderen Ende der Leitung eine Frauenstimme meldet, fällt mir noch eine wichtige Frage ein. Ich bleibe abrupt stehen und lasse das Handy sinken.
»Annili, haben Sie je eine Liste von Zielen besessen, die zum Glück führen? Eine Art Kompass für ein erfülltes Leben, wie es meine Freundin Stella nennt?«
Annili lächelt.
»Eine schöne Bezeichnung. So einen Kompass hat vermutlich jeder. Ich habe nur keine Ahnung, wo meiner hingekommen ist.«
Mein Herz klopft schneller.
»Erinnern Sie sich noch, was Ihre Ziele waren?«
»Ich erinnere mich sehr gut.«
»Haben Sie sie alle abgehakt, oder fehlt Ihnen etwas?«
Sie denkt darüber nach. Dabei tritt die Sehnsucht der silbernen Rose in ihre hellen Augen und bringt sie zum Glänzen.
»Ich wäre gern einmal in New York gewesen. Ich habe als Mädchen so viele Romane über New York gelesen, besonders nach dem Krieg, als das Amerikanische wie eine große Welle über den Atlantik gekommen ist. Ich glaube, ich habe mich ein bisschen in die Stadt verliebt. Aber es hat nie geklappt. Wie in dem Lied von Udo Jürgens.«
Sie zuckt mit den Schultern.
»Abgesehen davon ist mir nie etwas abgegangen. Warum fragen Sie?«
»Glauben Sie, dass man auch glücklich werden kann, wenn einem eine Sache fehlt?«
»Wie New York?«
»Eher wie die Liebe.«
Ich suche nach einer positiven Antwort in ihren Augen. Sie betrachtet mich ein paar Sekunden lang bewegungslos. Einziges Geräusch in der Stille ist eine verzerrte Frauenstimme, die: »Taxi Vierundzwanzig, was kann ich
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