Naschmarkt
Aussage. Eigentlich ging sie mir schon viel länger ab, falls ich je eine gehabt hatte. Bei der Erkenntnis fiel mir fast die Brille aus der Hand: Was, wenn es keine Prämisse gab? Wenn die liebevoll ausgesuchten
Beads
meiner Freundinnen gar nicht meine Ziele gewesen waren, sondern nur Wegweiser in einer viel größeren, unüberschaubaren Wiese, durch die ich laufe? Niemals hatte ich mich verlassener gefühlt als jetzt, wo sie auch noch fort waren. Unwillkürlich summte ich die Melodie eines Kinderliedes und dachte über die Worte nach.
And the green grass grows all around, all around …
Schließlich nahm ich einen Stift und ein Post-it und schrieb in großen Buchstaben meine Prämisse auf:
WACHSTUM FÜHRT ZU LIEBE!
Das Post-it klebte ich an mein größtes Bücherregal, genau auf Augenhöhe. Stella hatte recht. Es war an der Zeit, etwas zu ändern.
Natürlich konnte ich die Nachrichten von djfleming ignorieren. Konnte weiterhin blind daten und noch blinder bloggen. Doch ich entschied mich, das Risiko einzugehen und der Spur zu folgen. Ich würde herausfinden, wer dieser Mensch war, der mich so gut zu kennen schien. Schritte in die richtige Richtung.
Die Bahngleise machen eine leichte Rechtskurve und enden dann einfach. Hier ist das Gestrüpp besonders hoch, als hätte sich seit Monaten niemand darum gekümmert. Reste blecherner Baubaracken liegen herum und begrenzen die bestimmt mehrere tausend Quadratmeter große Fläche, die bis vor zwei Jahren das Grundstück eines riesigen Wohnkomplexes gewesen ist. Der Boden lässt erahnen, wo sich das U-förmige Gebäude befunden hat, so als wollte es bleibende Fußabdrücke hinterlassen.
Ich muss über einiges an Bauschutt klettern, bis ich den betonierten Platz in der Mitte erreiche. Hier finden sich noch etliche Spuren der ehemaligen Bewohner. Reste von Graffiti auf Mauersockeln, ein alter Basketballkorb ohne Netz, in Stein geritzte Namen und Herzen sowie reichlich herumliegende Bierflaschen. Ich vermute, dass Jugendliche aus dem Bezirk sich regelmäßig an diesem Ort verabreden.
All das interessiert mich jedoch wenig. Fasziniert betrachte ich die Stelle, wo ein breiter Riss den Beton ziert, in dem Gras wild wuchernd sprießt, als Zeuge der Vergänglichkeit von Menschenschöpfung.
Heute Morgen, als ich dort auf dem rissigen Betonplatz stand, begriff ich, dass es nicht nur das Gras ist. Alles wächst, auch wenn wir es nicht sehen können. Unsere Gedanken, unsere Ideen, unsere Gefühle und vielleicht sogar unsere Füße.
Ich gehe in die Hocke und strecke die Hand nach dem Gegenstand aus, der im Gras liegt. Kurz bevor ich ihn berühre, ziehe ich sie wieder zurück, als könnte er mich verbrennen.
»Angst?«, sagt eine Stimme hinter mir. Erschrocken drehe ich mich um. Ich hätte nicht damit gerechnet, hier, am sprichwörtlichen Arsch der Welt, einem anderen Menschen zu begegnen. Schon gar nicht dem Menschen, der sich jetzt freundlich lächelnd zu mir hinunterbeugt.
»Annili?«
Orange Pekoe kläfft freudig, als sie meine Stimme hört, und wedelt mit dem Schwanz. Wahrscheinlich bin ich für sie untrennbar mit dem Geschmack von englischem Kuchen verknüpft.
»Es ist gefährlich, Dinge aufzuheben, die andere Leute weggeworfen haben«, sagt die alte Frau lächelnd. Sie trägt dieselbe riesige Brille und den beigen Wollmantel, doch diesmal darunter ein schlichtes braun und beige gemustertes Hauskleid sowie auf dem Kopf eine braune Pelzmütze. Ich stehe auf und greife zögernd nach ihrer ausgestreckten Hand. Sie drückt sie leicht, anstatt sie richtig zu schütteln, und legt die zweite auf mein Handgelenk. Eine sehr vertrauliche, herzliche Geste.
»Was tun Sie hier?«, frage ich sie.
»Ich wohne ein Stück stadteinwärts in der Laxenburger Straße. Orange und ich gehen jeden Tag bis hierher und zurück. Es ist ein schöner Spaziergang. Sie müssen wissen, Dotti, mit Mitte achtzig ist es wichtig, in Bewegung zu bleiben. Und Orange ist auch nicht mehr die Jüngste.« Annili tätschelt den Kopf des Hundes, der sie voller Hingabe aus den dunklen Knopfaugen mustert.
»So ein Zufall«, sage ich. »Ich bin heute zum ersten Mal in dieser Gegend. Aber«, mir kommt ein Gedanke, »wenn Sie täglich hier sind, sind Sie unter Umständen jemand anders begegnet. Einen Manm, der ebenfalls jeden Tag an den Bahngleisen entlang spazieren geht und sich besonders für das Gras in den Rissen interessiert.«
Annilis Augen ruhen auf mir. Ist da ein verstecktes Funkeln? Ein
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