Naschmarkt
waschechtes Mauerblümchen.
Ich kehre dem Betonplatz den Rücken zu, mache einen Schritt in die Richtung, aus der ich gekommen bin, und nicke Annili zum Abschied zu, als es passiert. Orange zerrt an ihrer Leine, läuft mir genau vor die Füße, und bei dem Versuch, ihr auszuweichen, trete ich in einen Spalt im Boden, bleibe mit dem Schuh stecken und knicke um. Ehe ich mich wieder fangen kann, sitze ich auf meinen vier Buchstaben und starre in zwei riesige, erstaunte Hundeaugen.
»Dotti, um Himmels willen!«, ruft Annili. »Es tut mir furchtbar leid. Orange ist Ihnen genau vor die Füße gelaufen.«
»Schon gut«, antworte ich, rapple mich hoch und zerre meinen Schuh aus dem Spalt. Als ich ihn wieder auf den Boden setze, beiße ich mir vor Schmerz auf die Lippen. Der Fuß scheint nicht gebrochen zu sein, ist aber böse verknackst. Ich kann nur sehr vorsichtig auftreten, jede Bewegung schmerzt. Es wird ganz schön mühsam werden, auf diese Art zurück zur Busstation zu humpeln. Doch das ist es nicht, was mir momentan die größten Sorgen bereitet.
»Der Kompass«, flüstere ich.
Was für ein absurder Gedanke, versuche ich mich selbst zu beruhigen. Als könnte eine verschollene Uhr dazu führen, dass einem schlimme Dinge zustoßen. Totaler Blödsinn. Es war einfach Pech.
Pechmarie.
Oder eine Verkettung unglücklicher Umstände. Auf jeden Fall hat es nichts mit meiner Entscheidung zu tun, djfleming zu ignorieren.
Wirklich nicht? Das Kopfkino spielt die Galapremiere eines ganz anderen Films: Ich sehe meine Wohnung unter Wasser stehen, meine Bücher in Flammen aufgehen, Pohl, der mir mit ernster Miene erklärt, dass ich gefeuert bin, und mich meinen neuen Arbeitsplatz an der Supermarktkasse antreten. Ich bin mir sicher, wenn ich den Film zu Ende schaue, werde ich wie der geizige Mister Scrooge bei Charles Dickens mein eigenes Begräbnis zu sehen bekommen. In HD mit Dolby Surround Sound. »Nach langem Leiden verstorben an einer extrem seltenen Krankheit aufgrund fataler Fehlentscheidungen im Leben«, wird in der Todesanzeige stehen.
Ich muss ziemlich verstört dreinschauen, denn Annili legt fürsorglich einen Arm um meine Schulter und ihre Hand an meine Wange.
»Das wird schon, Dotti.
Bis du heiratest, ist es wieder gut,
hat meine Mutter immer gesagt. Ich habe zwar nie geheiratet, aber tröstlich war es trotzdem.«
Ich breche endlich in Tränen aus.
Eine Dreiviertelstunde später sitze ich auf einer kleinen Chaiselongue in Annilis Wohnung. Auf meinem Knöchel liegt ein halbes Kilo Rindfleisch, in der Hand halte ich eine arg geblümte Tasse mit heißer Milch, und neben mir hockt Orange, deren hungriger Blick zwischen beidem hin- und herflackert. Annili hat sich, nachdem ich erstversorgt war, in der Küche zu schaffen gemacht. Ich höre sie nebenan mit Metalltöpfen klappern.
»Es ist eine Kunst«, hat sie mir erklärt, »die Mandeln so zu kochen, dass sie sich gut schälen lassen, ohne das Aroma zu verlieren.« Mir ist nie vorher ein Mensch begegnet, der seine Nüsse selbst schält, anstatt sie essfertig in der Dose zu kaufen.
»Sehen Sie, das ist doch nicht das Gleiche, Dotti«, meint sie nun und gibt mir eine Handvoll noch warmer, feuchter, frisch geschälter Mandeln zu kosten. Ich esse sie andächtig, nippe an meiner Milch und kann mich an dem Raum, in dem ich mich befinde, nicht sattsehen.
Jeder Winkel von Annilis Wohnung ist vollgestopft. Nicht wie bei mir nur mit Büchern, obwohl es auch davon eine ganze Menge gibt: verteilt auf alte, wackelige Holzschränke und Glasvitrinen stehen Porzellanpferdchen neben Fingerhüten, Stofftiere neben Souvenirgläsern, Farbfotos verblichener Haustiere neben Schwarzweißaufnahmen lachender Menschen und dazwischen allerlei Nippes, Geschirr, Schmuck und Schneekugeln. Auch eine vorsintflutliche Reiseschreibmaschine ist vorhanden. Bei den Büchern dominieren Biografien, Kunst- sowie Geschichtsbücher und Fachliteratur zum Thema Hund.
Außerdem besitzt Annili die wohl gigantischste Sammlung von Hörkassetten, die ich je gesehen habe. Dazu einen passenden Kassettenplayer, so einen, wie ich ihn als Kind besaß. Märchenkassetten, damals das Neueste vom Neuen. Wenn sie hängenblieben, musste man sie mit dem Finger oder einem Bleistift manuell weiterspulen.
Auf den Fensterbrettern stehen Pflanzen in diversen Größen und Formen, mittendrin ein Vogelkäfig mit zwei Wellensittichen, die seltsamerweise beide
Putzi
heißen. Die Wände schmücken Zierteller mit Kätzchenmotiven,
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