Nashira - Talithas Geheimnis: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
einbrachte: Geduld war gefragt. Sie war so daran gewöhnt, anderen etwas vorzuspielen, dass sie es auch dann nicht unterließ, wenn sie allein in ihrer Zelle war. Aber wenn sie erst einmal den Gipfel erreicht hatte, würde sie endlich wieder sie selbst sein. Dann würden die anderen sich ihr anpassen müssen und ihren Erwartungen entsprechen. Bis dahin musste sie sich sanft geben. Vergeltung würde sie später üben, mit kühlem Verstand, und die Rache dadurch noch intensiver auskosten.
Die Oberste Richterin des Klosters hatte sich erhoben und Partei für sie ergriffen: »Gewiss, Schwester Grele ist noch sehr jung. Dennoch hat sie ihre besonderen Fähigkeiten beeindruckend unter Beweis gestellt. Nachdem sie beim Klosterbrand so schwer verwundet wurde, hat sie sich nie entmutigen lassen, sondern sich bald als unverzichtbar erwiesen in dem Bemühen, dieses Kloster zu erhalten und neu erblühen zu lassen. Erinnert sei vor allem an ihr heroisches Auftreten anlässlich des tragischen Todes unserer über alles geliebten Kleinen Mutter, Schwester Althea. Sagt mir ehrlichen Herzens, liebe Mitschwestern, wer aus unserem Kreise könnte fähiger sein als Schwester Grele, dieses Amt zu bekleiden? Aufgrund welcher Eigenschaften? Doch nur aufgrund eines höheren Alters. Aber das würde unser Kloster nicht retten. Nein, was wir brauchen, sind der Mut und die Kraft dieser jungen Frau und Mitschwester.«
Grele war von diesem Plädoyer nicht überrascht. Schließlich stand die Oberste Richterin, Schwester Solonia, auf Megassas Gehaltsliste. Zweifellos eine hervorragende Anwerbung: eine Frau mit einer scharfen Zunge und vertraut mit den Machenschaften und der Logik der Politik.
Es war nicht notwendig geworden, weitere Stimmen im Rat zu kaufen. Es herrschten finstere Zeiten, entschlossenes und vor allem rasches Handeln war geboten, und die Protektion Megassas, der allgemein als Greles Förderer galt, auch wenn es niemand offen zugab, war mehr wert als tausend Worte. In demütiger Haltung hatte sie dagesessen. Den Arm auffällig verbunden, das Haupt gesenkt, schien sie allem Anschein nach bereit, jedwede Entscheidung des Rates ergeben hinzunehmen.
»Schwester Grele, bist du bereit, die Last dieses Amtes auf dich zu nehmen?«, hatte Schwester Solonia schließlich gefragt.
Grele war aufgefahren, so als habe man sie aus ganz anderen Gedanken gerissen, und ihr Gesicht verzog sich zu einer bestürzten, leidenden Miene. »Eure Wahl ist eine außerordentliche Ehre für mich, und ich weiß, eigentlich müsste ich mich sehr freuen, unserer Schutzgöttin Alya und dem ganzen Orden auf diese Weise dienen zu dürfen. Dennoch spüre ich im Herzen auch die Furcht, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein, und ich frage mich, ob meine Kräfte ausreichen werden. Dennoch glaube ich fest daran, dass die Göttin immer und überall unter uns ist und auch die Entscheidungen dieses Rates lenkt. Daher füge ich mich und neige das Haupt, um die Wahl anzunehmen.«
Beifälliges Gemurmel erhob sich aus dem Kreis der Versammelten, und erneut senkte Grele den Blick.
Die Amtseinführung fand im Kloster Messe statt, denn die Wahl der Kleinen Mutter war eng an das Kloster gebunden, das sie leiten würde.
»Es kommt nicht auf den Ort an, an dem wir unser Amt ausüben, sondern auf unseren Glauben«, hatte Grele demütig erklärt, und alle Mitschwestern hatten daraufhin ihre Klugheit und ihre Bescheiden gelobt. Aber dieses alte Kloster stand für alles, was sie erlebt hatte, ihre schwersten Stunden, aber auch ihren rasanten Aufstieg. Dort hatte sie innerhalb weniger Augenblicke alles verloren, was sie besessen hatte, dort hatte Talitha sie herausgefordert, aber dort würde sie nun ihren größten Triumph feiern. Sie wurde Kleine Mutter, während Talitha irgendwo im Gebirge bei hungernden Sklavenbanden hauste.
Immerhin hatte Megassa dafür gesorgt, dass wenigstens der Tempel für die Zeremonie wieder in altem Glanz erstrahlte. Als Grele ihn am Morgen ihrer Einsetzung zum ersten Mal betrat, erfüllte ein besonderer Stolz ihr Herz.
Die Grundstruktur des alten Tempels war erhalten worden, und die Altartafel mit dem eingravierten Bild der Göttin Mira dieselbe wie zuvor. Alles Übrige war neu, majestätisch, imposant. Goldener Stuck und Zierelemente aus Luftkristall überall, Bänke aus edelstem Talareth-Holz, der Altar aus Marmor, große Fenster aus buntem Glas, nicht nur in den Fassaden, sondern auch im Dach. Es war eine Pracht an Farben, Formen und Materialien, die
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