Nashira - Talithas Geheimnis: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Zeugnis von dem unermesslichen Reichtum und der Macht des Mannes gab, der diesen Tempel hatte wiederaufbauen lassen, und damit auch des Ordens der Priesterinnen.
Das Tempelschiff quoll über von Besuchern, angefangen bei den Mitschwestern des Klosters über die Novizinnen bis hin zu den bedeutendsten kirchlichen Vertretern der anderen Reiche. Und alle schauten auf Grele, mit Blicken voller Hoffnung und Bewunderung.
Durch ein Spalier gelb gewandeter Novizinnen, die eine Hymne angestimmt hatten, durchschritt sie das lange Tempelschiff aus orangefarbenem Marmor, der Farbe der Göttin Alya.
Die Mutter des Sommers, in ihrer Eigenschaft als Höchste Priesterin dieses Reichs und Stellvertreterin Alyas auf Erden, würde den Weiheritus vollziehen. Mit unverhohlenem Neid schaute Grele sie an: Noch war sie nicht zur Kleinen Mutter geweiht, und schon dachte sie an den nächsten Schritt, an das Amt, das diese Frau vor ihr bekleidete. Einst hatte sie gelaubt, Kleine Mutter zu werden sei das höchste Ziel, das sie erreichen könnte, und mehr würde sie sich nicht wünschen. Nun war sie jedoch sicher, dass sie heute lediglich die erste Stufe einer langen Treppe nahm, die sie bis ganz hinauf zum Gipfel führen würde.
Sie betrachtete die Höchste Priesterin, alt und beleibt, in ihrem orangefarbenen Gewand und den müden, aber stolzen Gesichtszügen. Dabei stellte Grele sich vor, wie sie sich in diesen Gewändern fühlen mochte, und ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken.
Genieße das Heute, auch das Morgen wird kommen , wies sie sich selbst zurecht.
Zwei Mitschwestern zogen ihr das Priesterinnengewand aus, denn das Protokoll sah vor, dass die Einkleidung öffentlich geschah. Grele überließ sich ihren erfahrenen Händen. Als sie nur noch in ihrem schneeweißen Untergewand aus grobem Gewebe dastand, trat die Mutter des Sommers auf sie zu. Sie tauchte einen Talareth-Zweig in ein duftendes Öl und bestrich damit Greles Stirn. Es war der Auftakt zu einem Ritus, der einer Bestattungszeremonie sehr ähnlich war, symbolisierte er doch, dass die neue Kleine Mutter ihr bisheriges Leben verlor, um in ihrem neuen Amt wiedergeboren zu werden. Die Hohepriesterin nahm eine Handvoll Erde aus einem Silbergefäß, das eine Priesterin ihr reichte, und bestreute damit Greles Haupt, während sie Miras Segen erbat. Dann entfernte sie sich, und vier Novizinnen traten vor. Auf ihren Armen trugen sie das neue dunkelrote Gewand herbei und legten es Grele mit langsamen und einstudierten Bewegungen an.
Als Grele sich umwandte, nun als Kleine Mutter, begrüßte sie der warme Applaus der Versammelten, den sie mit gesenktem Haupt entgegennahm. Sie quoll über vor Freude. Und sie wünschte sich, dass ihr Vater anwesend wäre, damit er gesehen hätte, was tatsächlich in ihr steckte, und endlich begriff, welch schwerer Fehler es gewesen war, sie ihrem Schicksal zu überlassen.
Dann hob sie die Hand, sofort verstummte die Menge. Grele genoss das Wohlgefühl, das sie dabei überkam, die Lust an der Macht, und begriff endlich, wieso Megassa dieser Lust sein ganzes Leben gewidmet hatte.
»Die Zeiten sind schwer«, sagte sie, »denn entartete Bestien haben den Versuch unternommen, die überkommene Ordnung umzustürzen, jene Ordnung, die die Götter selbst unserer Welt gegeben haben. Dinge, die wir für unmöglich hielten, sind leider geschehen, wir mussten miterleben, wie rechtschaffene, tugendhafte Frauen der Niedertracht jener Schlangen erlagen, die wir selbst an unserem Busen genährt haben.« Sie machte eine Pause und ließ ihre Worte wirken. »All das jedoch«,fuhr sie fort, »muss uns nicht schrecken. Unsere Ordnung ist stärker als jedwede Verschwörung, stärker als jede Bedrohung. Unsere Feinde werden unterliegen, zum Verhängnis wird ihnen eben jene Gotteslästerung werden, die sie begangen haben, als sie sich erhoben, denn die Götter stehen auf unserer Seite!« Beifall unterbrach sie, doch eine kurze Handbewegung genügte, damit wieder Stille einkehrte. »Vor euch allen verpflichte ich mich, den früheren Glanz dieses Klosters wiederherzustellen und die Gläubigen vor der Hand der Frevler zu beschützen. Unsere Feinde werden unterliegen, denn mit der Kraft unseres Glaubens werden wir sie besiegen.«
Ein letzter Applaus besiegelte ihre Worte, und nun erlaubte sich Grele endlich ein zufriedenes Lächeln.
Man feierte mit einem üppigen Bankett, das in Megassas Palast gegeben wurde. Nach Sonnenuntergang zogen sich die neue Kleine Mutter und
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