Nashira
Versuchung. Von diesem Mann wollte sie kein Essen annehmen.
Melkise schien abmarschbereit. Noch ein letztes Mal bückte er sich, mit einem Säckchen in der Hand, zu ihnen nieder. »Nimm«, sagte er zu Saiph.
»Tu es nicht!«, mischte sich seine Herrin ein.
Der Mann warf ihr einen mitleidigen Blick zu. »Ach, Gräfin, was willst du denn? Das ist die Medizin, die du selbst auf dem Markt gekauft hast. Oder ist es dir lieber, wenn er unterwegs am Fieber krepiert?«
Saiph nahm das Säckchen und schluckte den gesamten Inhalt.
»Die Händlerin hat aber gesagt, dass die Kräuter aufgebrüht werden sollen.«
»Die hat doch keine Ahnung. So wirken sie viel schneller, wir haben keine Zeit zu verlieren. Grif!«
Der Junge löste das Seil, mit dem Talitha und Saiph aneinandergebunden waren, und trat hinter sie, um jederzeit eingreifen zu können. Denn Melkise lösten ihnen nun auch die Ketten, um sie gegen Handschellen zu wechseln, die sie beim Gehen nicht behinderten.
Saiph ließ den Austausch geschehen, doch als Talitha an der Reihe war und Melkise ihr den Ring von den Knöcheln streifte, verpasste sie ihm einen Tritt gegen die Nase und rammte gleichzeitig Grif den Ellbogen in die Rippen. Dann sprang sie auf und warf sich auf Verbas Schwert, das in einer Ecke bei der Feuerstelle stand. Sie hatte das Heft schon fast erreicht, nur wenige Handbreit waren es noch, bis ihre Finger es berühren würden, da umklammerte etwas ihre Knöchel, es ruckte, und im nächsten Augenblick schlug sie mit dem Kinn auf dem Fußboden auf. Ein heftiger Schmerz durchfuhr sie, und alles wurde schwarz.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie mit dem Rücken auf dem Boden. Ihr Gesicht und ihre Haare waren nass. Saiph und Grif hockten links und rechts über sie gebeugt, während Melkise mit Verbas Schwert in Händen vor ihr stand.
Grif kippte ihr einen weiteren Schwall Wasser ins Gesicht.
»Das reicht, sie ist ja wieder wach«, sagte Saiph und hielt die Hand des Jungen fest.
Melkise stieß die beiden zur Seite und beugte sich über Talitha. Zum ersten Mal, seit er aufgetaucht war, lächelte er nicht mehr. Er sah sie an, und seine Züge verrieten, wie wütend er war.
Grif fesselte ihr Hände, Füße und Arme und band ihr die Handgelenke und Knöchel zudem an einer langen Holzstange fest. Talitha fehlte die Kraft, sich zu wehren. In ihrem Kinn pochte der Schmerz, und es fiel ihr schwer, die Umrisse der Dinge um sie herum klar zu erkennen. Sie schmeckte Blut in ihrem Mund. Vielleicht hatte sie sich beim Fallen auf die Zunge gebissen oder sich einen Zahn herausgebrochen, sie wusste es nicht. Jedenfalls hatte sie das Gefühl, dass die Zunge zu groß war für den Mund.
Als Grif fertig war, baute sich Melkise vor Saiph auf. »Nur eine Dummheit, nur ein winzig kleine, und ich hacke ihr ein Bein ab, verstanden? Und du kannst sicher sein, jedermann wird glauben, dass du sie misshandelt hast.«
Schließlich mussten die beiden Sklaven die gefesselte Talitha anheben und sich die Stange auf die Schultern laden. So verließen sie die Herberge.
Draußen lag alles in einem dichten Nebel, es roch nach Regen und Moos.
»So ein Mistwetter ...«, knurrte Melkise und hüllte sich fester in seinen Umhang ein. »Auf geht’s.«
Zügig machten sie sich auf den Weg. Talitha schaukelte hin und her, sodass sie bald eine heftige Übelkeit erfasste. Doch mehr als die unbequeme Lage, mehr als der brennende Schmerz im Kinn setzte ihr das schmähliche Gefühl zu, besiegt worden zu sein.
30
S ie schlugen den Weg Richtung Osten ein und folgten wieder den gleichen abgelegenen Baumpfaden, auf denen sie nach Alepha gewandert waren.
So schnell marschierten sie, dass Saiph bald schon außer Atem war. Außerdem fiel es ihm mit den zusammengeketteten Händen schwer, das Gleichgewicht zu halten, und Talithas Gewicht auf seinen Schultern machte die Sache nur noch schlimmer.
Zur Mittagszeit legten sie eine Pause ein. Das Mädchen wurde auf den Boden gelegt, aber Melkise dachte nicht daran, sie von der Stange zu lösen. Stattdessen fasste er Saiph am Arm und entblößte ihm die Schulter, auf der beim Tragen die Stange gelegen hatte. Die Stelle unter dem Umhang war blau angelaufen und geschwollen.
»Sieh mal, was du ihm eingebrockt hast«, sagte er zu Talitha, wobei er sie streng ansah. »Und vergiss nicht, dass er immer noch krank ist. Willst du so weitermachen, auch auf die Gefahr hin, dass dein Freund draufgeht, oder willst du vielleicht zur Vernunft kommen und auf eigenen
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