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Nashira

Nashira

Titel: Nashira Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Troisi
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Einzige, woran sie sich noch klammern konnte. Überall im Palast hörte man, wie von der »weißen Pest« gemunkelt wurde, und sobald sie das Wort hörte, schrie sie: »Nein, das kann nicht sein!« – und lief davon. Währenddessen wurden ihre nächtlichen Gebete immer lauter, immer verzweifelter.
    Die kleine Prozession kam vor Lebithas Tür zum Stehen.
    »Ich werde alleine eintreten«, sagte die Große Mutter.
    Megassa beugte den Kopf und bat die Hohenpriester, ihm in den großen Saal im Nordflügel des Palastes zu folgen, während er Talitha befahl, sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen. Dort wartete sie, bis die letzten Schritte in dem langen Flur verhallt waren und es wieder völlig still war. Dann schlich sie sich wieder hinaus und lief auf Zehenspitzen zurück zum Krankenzimmer ihrer Schwester. Sie legte ein Ohr an das Holz der Tür und lauschte, vernahm aber keinen Laut, noch nicht einmal den beängstigend röchelnden Atem Lebithas, ein Geräusch, das sie seit Wochen bis in den Schlaf verfolgte.
    Sie trat einen Schritt zurück und bückte sich zum Türschloss hinab, während ihr Herz aufgeregt pochte, denn sie wusste, dass es so etwas wie ein Frevel war. Doch in diesem Moment war ihr das völlig egal. Sie wollte bei ihrer Schwester sein, wollte sie nicht allein lassen, nicht in dieser Stunde.
    So spähte sie durch das Schlüsselloch. Im ersten Augenblick
sah sie nur ein leeres Zimmer, das Fenster war geschlossen, und das Licht, das durch die Läden einsickerte, zeichnete helle Streifen auf den Fußboden. Schließlich erkannte sie einen Teil des Bettes, auf dem unter der Bettdecke Lebithas Füße hervorschauten.
    Dann raschelte Stoff, und da war sie: die Große Mutter. Da sie nun den Schleier abgelegt hatte, konnte das Mädchen ihr Gesicht im Profil erkennen. Dieses Antlitz, das niemand bis auf ihre treuesten Mitschwestern schauen durfte, war das einer unansehnlichen Greisin: Mit ihrer Hakennase, den von tiefen Falten umgebenen dünnen Lippen und hängenden Mundwinkeln, die ihrer Miene etwas besonders Hartes gaben, stand sie da und schaute auf Lebitha hinab, als habe sie nur ein Objekt vor sich, ein Studienobjekt, das sie eingehend musterte.
    Eine Frau. Einfach nur eine alte Frau.
    Was hast du erwartet? Nicht wegen ihres Aussehens ist sie Große Mutter geworden, sondern wegen ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten.
    Würde es ihr gelingen, ein Wunder zu vollbringen? Es war tatsächlich ein Wunder, worauf Talitha hoffte.
    Sie setzte sich auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. So saß sie da, den Kopf auf die zur Brust gezogenen Knie gelegt, und wartete darauf, dass das Wunder geschah.

    Am Tag darauf starb Lebitha.

5
    L ass mich!«
    »Aber junge Herrin ...«
    »Du sollst gehen, hab ich gesagt.«
    Kolya hob den Kopf und wollte auf sie zutreten. Da packte die junge Gräfin eine Vase auf der Kommode und schleuderte sie gegen die Wand, um Haaresbreite am Kopf der Dienerin vorbei.
    »Raus!«, schrie sie, so laut sie konnte.
    Kolya brach in Schluchzen aus und lief zur Tür hinaus. Talitha blieb allein in der Mitte des Raumes zurück, am Boden die Scherben der Vase, mit den Blumen dazwischen, während sich das Wasser in alle Richtungen verteilt hatte. So stand sie da, Zorn stieg in ihr hoch, und ihr Atem wurde immer keuchender. Plötzlich packte sie die Betttücher und riss sie vom Bett, nahm das Kopfkissen und zerfetzte es, so dass die Federn herabregneten, ergriff den Stuhl und schleuderte ihn krachend zu Boden, packte alles, was ihr in die Finger kam, zerschlug, zertrümmerte, zerstörte es, zerrte all ihre Kleider aus dem Schrank und riss sie in Fetzen. Und dabei schrie sie und schrie und schrie, während die Möbel zu Bruch gingen und alles Greifbare durch den Raum flog, und sie hörte nicht auf, denn sie wusste: Sobald sie aufhörte, würde es wahr sein, und das, was in ihr tobte, würde sie verschlingen  – für immer. Aber sosehr sie auch wütete, so verzweifelt sie auch versuchte, ihrer Wut Luft zu machen, kam
sie doch nicht gegen diese Leere an, die sich nun vom Herzen aus in ihrem gesamten Körper ausbreitete, ihn mit eisernem Griff packte und lähmte. In ihr nahmen die Erinnerungen an Lebitha Gestalt an: an ihr Lächeln, mit dem sie die jüngere Schwester morgens geweckt hatte, den Geruch ihres Priesterinnengewandes, an den Duft ihrer Haare, wenn sie sie gewaschen hatte und an der Luft trocknen ließ, an jenen Tag, als sie ihr einen Splitter aus der Handfläche gezogen hatte, oder

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