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Nashira

Nashira

Titel: Nashira Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Troisi
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den Leichnam.

    Talitha hatte die Augen starr auf das Feuer gerichtet und versuchte, zwischen den zuckenden Feuerzungen die Umrisse des Körpers zu erkennen. Dabei stellte sie sich vor, wie das Fleisch in der Hitze der Flammen langsam zerfiel, bis sie schließlich nicht mehr unterscheiden konnte, wo das Holz endete und Lebithas sterbliche Überreste begannen.
    Lange noch brannte das Feuer, während darum herum zu Ehren der Verstorbenen ein Trauermahl stattfand. Die Stirn von der Glut erhitzt, saß das Mädchen nur wenige Ellen von dem niederbrennenden Scheiterhaufen entfernt. Um sie herum aßen, tranken und schwatzten die Trauergäste.
    Es war bereits Abend, als der Scheiterhaufen ganz heruntergebrannt und ihre Schwester nur noch ein Haufen Asche war. Die Priesterinnen gaben sie in eine Urne und traten damit zu den Angehörigen. Megassa nahm eine Handvoll und verstreute sie über der Erde. Seine Gemahlin tat es ihm nach. Als die Priesterinnen vor Talitha standen, tauchte diese nur die Fingerspitzen hinein und ließ einen feinen Ascheschleier vom Wind verwehen. Fast ölig fühlte sich das an, was an ihren Fingern zurückblieb, und sie senkte den Blick und betrachtete die grauen Schatten auf ihren Fingerkuppen.
    Das ist alles, was von meiner Schwester übrig ist, sagte sie sich.
    Schließlich wurde die Urne verschlossen und zwischen den Wurzeln des Talareths vergraben. Von dort würde Lebithas Geist tief in die Erde eindringen, wo die Götter ihre Heimstatt hatten.
    Die junge Gräfin war froh, als sie wieder auf ihr Zimmer zurückkonnte. Diese vier Wände schienen ihr der einzige erträgliche Ort in ganz Talaria zu sein. Sie schloss die Tür hinter
sich und kauerte sich auf ihrem Bett zusammen. Der ganze Palast lag in tiefer Stille, als es plötzlich an ihrer Tür klopfte. Zweimal sachte und einmal fester, das Zeichen, das sie und Saiph schon vor Jahren vereinbart hatten.
    Sie musste sich einen Ruck geben, um aufzustehen und ihm zu öffnen. Auf Zehenspitzen trat Saiph ein und stellte einen Teller mit dampfendem Essen auf dem Tischchen neben ihrem Bett ab.
    »Du hast heute noch nichts angerührt. Irgendetwas musst du doch essen.«
    »Ich hab keinen Hunger«, antwortete Talitha knapp, wobei sie kurz auf die mit einer Fleischsoße angemachten Bohnen schaute und dann den Blick angeekelt abwandte.
    Sie stand auf, öffnete die Glastür zu ihrem kleinen Balkon, trat hinaus und setzte sich auf die Brüstung. Über ihr, durch die Zweige des Talareths hindurch, konnte sie das Lichtspiel der beiden Monde ausmachen. Rot schimmerte der eine, weiß der andere. Dann blickte sie an dem Stamm des Baumes hinunter. Den Platz, wo man ihre Schwester bestattet hatte, konnte sie nicht erkennen, weil eine besonders große Wurzel ihr die Sicht nahm.
    Wortlos trat Saiph von hinten an seine Herrin heran. Sie drehte sich nur kurz zu ihm um und wandte dann sofort wieder den Blick ab. »Ich war acht, als Lebitha und ich zum letzten Mal in diesem Bett geschlafen haben«, murmelte sie. »Die Betttücher von damals gibt es nicht mehr, und ich bin auch nicht mehr dieselbe wie damals. Nichts in diesem Palast trägt noch ihre Spuren. Unser Vater, unsere Mutter ... die haben nie verstanden, wer und wie sie wirklich war. Wenn ich die beiden anschaue, sehe ich weder den Leib, der sie geboren hat, noch die Arme, die sie gleich nach der Geburt hochhoben,
um sie dem jubelnden Volk zu zeigen. Nein, ich sehe nur zwei Fremde.« Sie wandte Saiph wieder den Blick zu. »Hast du meine Mutter heute bei der Bestattung gesehen? Deine Leute haben mehr Tränen vergossen als sie.«
    »Jeder zeigte seine Trauer anders. Du kannst nicht erwarten, dass sie auf genau die gleiche Weise leidet wie du.«
    Talitha lächelte höhnisch. »Sie hat sich ständig mit dem Fächer vor dem Gesicht herumgewedelt, um zu verbergen, dass ihr keine einzige Träne gekommen ist.«
    »Du bist ungerecht.«
    »Nein, ich bin nur ehrlich. Man kann nicht um jemanden weinen, den man gar nicht gekannt hat.« Einen Moment lang schloss das Mädchen die Augen und schaute dann wieder in den Garten hinunter. »Nein, hier gibt es nichts, das wirklich ihre Spuren trägt.«
    »Ich verstehe, wie du dich fühlst.« Saiphs Stimme klang sanft.
    Talitha biss sich auf die Lippen, während ein dumpfer Zorn in ihr aufstieg. »Ach, ich wusste doch, dass ich so etwas von dir zu hören bekomme. Aber ich brauche keine Schulter zum Ausweinen«, sagte sie. »Ich brauche Lebitha, hier bei mir, oder wenigstens eine Antwort.

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