Nashira
Lebithas leicht geöffneten Lippen. Und genauso wie fünf Jahre zuvor seine Mutter, fütterte er sie und fragte sich dabei unaufhörlich: Warum, warum, warum? Doch der Himmel über Messe, draußen vor dem Fenster, blieb stumm, und sogar die Blätter des Talareths verharrten reglos und schwiegen.
Der Morgen, als die Große Mutter eintraf, war besonders schwül, und die von Feuchtigkeit durchtränkte Luft lag drückend wie ein schwerer Mantel über der Stadt. Begleitet wurde die Große Mutter von den Höchsten Priestern der vier
Reiche: der Mutter des Sommers, einer alten Frau mit strenger Miene, die mit einem orangefarbenen Gewand bekleidet war, der Mutter des Frühlings, die ein grünes Gewand trug und die Talitha bereits bei dem Empfang vor der Vermählung ihrer Cousine Kalyma kennengelernt hatte, sowie dem Vater des Herbstes sowie dem des Winters, in braunem und weißem Gewand. Es war das erste Mal, dass die junge Gräfin männliche Priester sah, und überrascht stellte sie fest, dass es ganz normale Männer waren; der eine hatte vom Alter völlig schwarze Haare, hinkte leicht und trug einen dicken Bauch vor sich her, der sein schweres Gewand wölbte.
Die Große Mutter bewegte sich umgeben von dem kleinen Kreis aus Hohepriestern und Kombattantinnen, jenen Kämpferinnen, die ihre Leibwache bildeten und ihr nie von der Seite wichen. Wie die seltsame Priesterin, die Talitha an dem Abend, als ihre Schwester das Bewusstsein verlor, aufgefallen war, trugen sie Anzüge, die nur die Hände frei ließen und sich hauteng an ihre großen, schlanken Körper schmiegten. Jeder einzelne Muskel schien trainiert und wohlgeformt. Man hätte nicht sagen können, ob es Männer oder Frauen waren – und in der Tat gab es auch männliche Kombattanten –, denn ihre Gesichter waren alle hinter diesen mysteriösen Baummasken aus Talareth-Holz verborgen, die nur ihre hart und bedrohlich blickenden Augen erkennen ließen.
Die Große Mutter selbst war ganz in Schwarz gekleidet. Schwarz war ihr langes Gewand, dessen schwerer Stoff sich nur träge im Rhythmus ihrer Schritte bewegte, schwarz der Schleier auf ihrem Kopf, der hinter ihr eine kleine Schleppe bildete und ihre Gesichtszüge verhüllte. Wie ein Geist sah sie aus, eine schreitende Tote. Wo sie vorüberkam, knieten alle sofort nieder und beugten das Haupt. Es hieß, niemand sei
würdig, ihr Angesicht zu schauen, so wie auch niemand Miraval direkt, sondern nur durch das Geäst der Talareths ansehen konnte. Auch Megassa ging auf die Knie. Talitha hatte ihn noch in einer so unterwürfigen Pose gesehen. Offenbar spürte er die Aura einer Macht, die seiner überlegen war und der er sich zu beugen hatte.
Die Große Mutter trat zu ihm. »Erhebt Euch«, sagte sie.
Der Graf gehorchte. »Es ist eine außergewöhnliche Ehre für mich, dass Ihr mein Haus eines Besuches für würdig befindet«, sagte er.
Ihr Besuch war tatsächlich außergewöhnlich. Zurzeit residierte die Große Mutter in Galata, der Hauptstadt des Reichs des Winters. Für jeweils drei Monate im Jahre hielt sie sich in einer der Hauptstädte der vier Reiche auf. Und von dort bewegte sie sich nur höchst selten fort, umso weniger, wenn es nur darum ging, ihre Heilkräfte wirken zu lassen. Zwar wirkte sie selbst noch als Heilerin, aber nur einmal in drei Monaten, und zu dieser Gelegenheit mussten sich die Kranken selbst auf den Weg zu ihr machen, also in die Hauptstadt, in der sie gerade residierte. Nur in den allerseltensten Fällen reiste sie persönlich an ein Krankenlager. Man erinnerte sich noch, wann dies zuletzt geschehen war, und zwar einmal vor vielen Jahren für die Tochter eines Königs, und davor noch für eine Königin, die im Sterben gelegen hatte. Dass sie sich jetzt dazu herabließ, das Haus Megassa zu besuchen, war ein klares Zeichen, dass sie in der Frau des Grafen eine aussichtsreiche Kandidatin auf den Thron des Reichs des Sommers sah.
»Ich freue mich, einem Gläubigen helfen zu können, der seine Loyalität und seinen Gehorsam schon oft unter Beweis gestellt hat«, antwortete die Große Mutter mit leicht krächzender, aber dennoch fester und feierlicher Stimme.
Megassa ging ihr voraus zu Lebithas Zimmer. Talitha folgte ihnen.
»Sie schafft es, du wirst sehen, ihr wird es gelingen, sie zu heilen. Schließlich besitzt sie die stärksten Heilkräfte ganz Talarias«, hatte Saiph am Tag zuvor zu ihr gesagt.
Seine Herrin jedoch fühlte sich den Ereignissen völlig ausgeliefert, und Gebete waren das
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