Nashira
daran, wie sie einmal in Streit geraten waren. Sie erinnerte sich an ein ganzes Leben, und dabei waren es nur siebzehn Jahre, von denen sie neun sinnloserweise voneinander getrennt waren – so viele vergeudete Tage.
Völlig erschöpft und leer, warf sich Talitha auf das Bett und vergrub das Gesicht in der Matratze. Der Schmerz, der sie überkommen hatte, zerriss sie, doch nicht eine Träne trat in ihre Augen.
Saiph, draußen vor ihrem Zimmer, legte die Stirn an die Tür und ließ, leise weinend, seinen Tränen freien Lauf.
Die ganze Stadt nahm an der Bestattung teil. So wie stets in letzter Zeit, wenn irgendwo in Messe viele Leute zusammenkamen, wimmelte es dabei von Gardisten, doch heute verhielten sich alle ruhig und gefasst. Das Volk hatte Lebitha geliebt. Man schätzte ihre freundliche, aber dennoch entschlossene Art, und bei offiziellen Anlässen hatte sie es nie versäumt, aufrichtiges Interesse und Anteilnahme für die Sorgen der einfachen Leute zu zeigen, sogar für die der Femtiten. Viele von ihnen standen an diesem Tag zusammengedrängt am Fuße des Talareths und hatten vom Weinen gerötete Augen und in den Händen Tücher in Weiß, ihrer Trauerfarbe.
Megassa betrachtete sie voller Verachtung. »Man könnte fast glauben, es werde eine Sklavin beerdigt«, knurrte er zu seiner Gattin.
Die Gräfin verbarg ihr Gesicht hinter dem Fächer und antwortete nicht. Wie immer war ihre Miene unergründlich, zu diesem Anlass aber von einem Anflug gefasster Trauer durchzogen. Auch zur Bestattung ihrer Tochter hatte sie Wert auf eine elegante Aufmachung gelegt. Ihr graues Kleid war raffiniert geschnitten und der glänzende Stoff kunstvoll bestickt. Reglos stand sie neben ihrem Gatten, während ihr ein paar wenige Tränen über die Wangen liefen.
Auch Talitha neben ihnen trug Grau.
»Du darfst nur hin, weil die Leute sonst reden würden, aber bei deiner Strafe bleibt es«, hatte ihr Vater noch zu ihr gesagt, bevor er ihr Zimmer verlassen hatte. Nach den Verwüstungen, die sie dort angerichtet hatte, hatte er einem Sklaven befohlen, ihr zwanzig Rutenhiebe zu versetzen, und dann persönlich der Bestrafung beigewohnt.
Damit unzufrieden, hatte er ihr zusätzlich noch zwei Wochen Stubenarrest aufgebrummt. Nur Saiph durfte zu ihr, wenn er ihr das Essen brachte, doch nur selten nutzte sie die Gelegenheit, ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Nichts von dem, was außerhalb dieses Zimmers geschah, interessierte sie noch, und sie wollte niemanden sehen. Die Leute, mit ihrem Gerede, gingen ihr auf die Nerven. Draußen vor dieser Tür verlief das Leben ganz normal weiter, als wenn nichts geschehen wäre. Und das ertrug sie nicht.
Auch wenn sie glaubte, schon am Tiefpunkt zu sein, glitt sie mit jedem Tag noch tiefer in ein schwarzes Loch, entfernte sie sich mehr von den Personen, die die Hand zu ihr ausstreckten. Dennoch, bei der Bestattung ihrer Schwester durfte
sie nicht fehlen. Und sei es auch nur, um sich bewusst zu werden, dass es stimmte, dass Lebitha für immer von ihr gegangen war. Denn aus ihrer Vorhölle heraus nahm sie alles nur noch verschwommen wahr, die Tage und Nächte, die einander abwechselten, das Licht der Sonnen, die ungerührt weiterschienen und nicht davon abließen, die geschlossenen Fensterläden zu durchdringen. Alles war so unendlich fern, das Leben fand anderswo statt.
Lebithas Leichnam auf dem Scheiterhaufen war in ihr rotes Priesterinnengewand gehüllt, während ihr geöffnetes Haar, schön und glänzend wie nie zuvor, um ihren Kopf herum auf dem Holz verteilt lag.
Talitha empfand es als falsch, dass dies ihr letztes Gewand sein sollte, denn sie war überzeugt, dass sich ihre Schwester im Kloster nie heimisch gefühlt und nur aus Gehorsam gegenüber ihrem Vater diesen Weg eingeschlagen und das Priesterinnengelübde abgelegt hatte.
Umringt von vier Priesterinnen, die ihr zur Hand gingen, stand die Kleine Mutter neben dem Scheiterhaufen. Mit einem Talareth-Zweig strich sie nun duftendes Öl auf den Leichnam. Es war aus dem Harz eben dieses Baums hergestellt, und sein durchdringender, säuerlicher Geruch erfüllte die Luft. Dann nahm sie eine Handvoll Erde und warf sie auf den toten Körper.
»Mögest du den Weg ins Innere der Erde finden, wo die Götter dich erwarten, damit dir ihr ewiger Lohn zuteilwerde.«
Schließlich näherten sich zwei Priesterinnen mit Fackeln in Händen, stellten sich an den Enden des Scheiterhaufens auf und entzündeten ihn. Sofort loderten die Flammen und erfassten
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