Nashira
Endlos lang kam sie ihr vor. So viele Ellen, die sie ohne Deckung so schnell wie möglich, ohne sich erwischen zu lassen, überwinden musste.
Sie duckte sich hinter einen Vorsprung und wartete. Eine Kombattantin marschierte vorüber. Kurz darauf kam die
zweite. Das hatte sie sich gedacht. Nach den Ereignissen der letzten Nacht waren die Wachen verstärkt worden. Sie wartete, bis die Kombattantin hinter der Ecke verschwunden war, und rannte los, erreichte wie der Blitz den Tempeleingang und presste sich flach an die Mauer, während ihr Atem sich langsam beruhigte.
Jetzt.
Sie trat zur Tür, holte eine Haarnadel hervor und nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie konzentrierte sich, merkte aber bald, dass es sehr viel schwieriger war, als sie gedacht hatte. Das Schloss wollte einfach nicht aufspringen, egal wie viel Es sie auch einsetzte.
Schon lief ihr der Schweiß über den Rücken. Der Zauber entkräftete sie, und sie hatte Angst. Scheiterte sie, war alles vorbei, eine zweite Chance gab es nicht. Da gab das Schloss endlich nach. Sie blickte sich noch einmal um und schlüpfte hinein.
So leer und so dunkel hatte sie den Tempel noch nie gesehen, doch der matte Schein, der durch die Fenster einsickerte, genügte ihr, um den Weg zu erkennen. Zielstrebig ging sie zu ihrem Ziel, und bei der Nische angekommen blieb sie einen Augenblick staunend stehen, geblendet wie beim ersten Mal von dem, was sie dort sah: Verbas Schwert – es war einfach fantastisch. Gleichzeitig verspürte sie einen Stich im Magen. Was sie jetzt tun wollte, würde alles verändern. Wenn sie den Arm ausstreckte und es wirklich nahm, wäre ihr bisheriges Leben beendet, hier vor diesem gläsernen Schrein.
Sie fackelte nicht lange, zog den Dolch aus dem Stiefel und zerschlug mit dem Griff das Glas. Das laute Klirren hallte von der Kuppel wider, und sie war sich sicher, dass jemand sie hören musste. Doch unbeirrt streckte sie Hand zum Heft
des Schwertes aus und ergriff es. Es war noch schwerer, als sie gedacht hätte, denn das Metall, aus dem es gefertigt war, verlieh ihm eine ungewöhnliche Festigkeit, die ganz anders war als die der Klingen, die sie bisher als Kadettin in der Hand gehabt hatte. Bewundernd glitt ihr Blick über die unregelmäßig geformte scharfe Schneide der Klinge, die im einfallenden Licht ein wenig glänzte.
Mach schon, sie können jeden Moment hier sein.
Die kostbare Reliquie fest in der Hand huschte sie aus dem Tempel. Auf dem Platz davor war niemand.
Durch das Halbdunkel schlich sie weiter und erreichte den Schlafsaal. Einfache Holzbetten füllten den großen Raum, und in jedem lag ein Mädchen. Bemüht, so wenig Lärm wie möglich zu machen, schlich Talitha durch die Reihen. Da lag sie. Im Schlaf kam ihr Koras Gesicht noch anmutiger vor. Vor dem Bett kniete sie nieder, legte ihr eine Hand auf die Schulter und rüttelte sie sanft. Kora öffnete die Augen, rieb sie und erschrak, als sie die Freundin erkannte. Sie fuhr hoch, doch Talitha gab ihr ein Zeichen, still zu sein.
»Was machst du denn hier?«, flüsterte Kora, wobei sie sich umschaute.
»Pass auf: Wenn ich den Schlafsaal wieder verlassen habe, zählst du bis hundert. Dann weckst du alle.«
Kora blickte sie verwirrt an. »Was soll das? Und warum bist du so angezogen ... Und das ... Oh Mira!«, rief sie und schlug vor Schreck beide Hände vor den Mund. »Du hast Verbas Schwert geklaut. Bist du wahnsinnig geworden?«
»Ich kann dir das jetzt nicht erklären. Hör mir gut zu: Ihr müsst zur Treppe laufen, alle zusammen, und sagt den Priesterinnen, sie sollen den Steg runterlassen. Dann lauft ihr so
schnell wie möglich hinunter. Aber alarmiert vorher auch die Sklaven.«
Kora bekam es mit der Angst zu tun. »Egal was du vorhast, ich beschwöre dich, Talitha, tue es nicht!«
»Versprich mir einfach nur, dass du alles tust, wie ich es dir gesagt habe. Und rennt die Treppe runter, ohne euch umzuschauen. Verstanden?«
»Talitha ...«
»Also, bis hundert, in Ordnung?«, wiederholte sie noch einmal. »Danke für alles, was du für mich getan hast. Du warst eine echte Freundin«, setzte sie mit einem Lächeln hinzu. Und so plötzlich, wie sie gekommen war, verschwand sie wieder, lautlos, als würden ihre Füße den Boden nicht berühren.
Sie schlug den Weg zum Küchentrakt ein, wo sie den zweiten Teil ihres Plans in die Tat umsetzen wollte.
Wieder duckte sie sich ins Halbdunkel, wartete, bis die Kombattantin vorbei war, und rannte über den Platz, um gleich
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