Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
dass Svenja die Schleife der Venen auf seinem Handrücken sah wie einen Buchstaben. »Ich werde schneller sein, als er war. Ich hab ihm das gesagt, einmal, als ich ganz sicher war, dass er da war. Ich habe ihn gespürt, da war auch Nacht, und ich war in irgendeiner Straße, alleine. Da hab ich ihm gesagt, dass ich schneller sein werde. Da hab ich viel gesagt, da hatte ich Angst. Ich hab ihm auch gesagt, dass die anderen alles wissen. Dass es ihm gar nichts nützt, mir die Kehle aufzuschneiden, weil die anderen es auch wissen, aber das stimmt natürlich nicht, die wissen nichts, ich hab das nur so gesagt, und dann hab ich kapiert, dass das dumm war. Ich bin schuld, verstehst du, Svenja, ich bin schuld, dass er den Mann mit den Zügen umgebracht hat und dass Nancy das passiert ist. Aber wenn er zu mir kommt, dann bin ich schneller, auch wenn er auf seinem Pferd reitet …«
»Moment.« Svenja streckte ihre Hand in den Wortwasserfall, um ihn aufzuhalten, und fasste Nashville sachte an der Schulter. »Beim letzten Mal hast du gesagt, der mit dem Messer wäre geflogen. Das geht natürlich nicht …«
»Natürlich nicht.« Nashville schüttelte den Kopf, beinahe ungeduldig, als wäre es Svenja, die sich das ausgedacht hatte. »Er saß auf einem Pferd. Deshalb konnte ich ihn nicht einholen.«
»Ihn … einholen? Ich dachte, du bist weggelaufen?«
Nashville legte den Dolch zurück, strich zärtlich über alle vier Messer und faltete Svenjas Hemd wieder darum herum. »Erinnerst du dich immer so genau, wie alles war?«
An diesem Abend lag Svenja lange wach und lauschte Nashvilles Atemzügen. Manchmal zuckte er zusammen, so plötzlich, dass sie erschrak. Von unten drangen Nachtstimmen zu ihnen herauf: Kater Carlo, Thierry, Friedel, eine Handvoll Hausgäste. Der Geruch nach dem, was sie rauchten, zog durch die Dielen.
Irgendwo in der Nacht saß Gunnar Holzen über seiner Doktorarbeit, schlief Julietta hinter einem vollendet schönen Gesicht, erzählte Nils in einer Kneipe vom Fechten, kochte Katleen vielleicht seit Stunden ein endlos kompliziertes Gericht für niemanden, ganz allein. Irgendwo in der Nacht warteten Nancy und der Junge zwischen den Zeilen auf den Morgen und das Licht. Irgendwo in der Nacht gab es jemanden, der wusste, was mit Sirja und dem Zugfütterer geschehen war. Der wusste, warum. Jemanden mit einem scharfen Messer.
»Du bist auch schön«, sagte Nashville in Svenjas Traum. »Schöner als sie.«
Am Donnerstag wachte Svenja vom Klingeln des Telefons auf.
Vor den Fenstern regnete es Geburtstagsregen in langen grauen Fäden. Sie hob ab.
»Svenja. Herzlichen Glückwunsch. Ich wollte nur sagen: Neunzehn. Wow! Ich hab lange zu viel zu tun gehabt, hier und da, tausend Sachen, aber heute gucke ich auf den Kalender und denke: Hey! An diesem Tag war doch irgendwas! Neunzehn! Nur noch zwei Jahre, bis du auch in Amiland Alkohol trinken darfst.«
Svenja lauschte der merkwürdigen Pause, die auf diesen Wortschwall folgte. Es war kein Wortwasserfall, dachte sie, es war mehr ein unordentliches Wortpaket, etwas wie zusammengeknüllte Zeitung. Und eigentlich ohne Inhalt.
»Danke«, sagte sie. Und, nach einem Moment: »Papa.«
»Erraten!«
Wieder die merkwürdige Pause. Er hatte immer in merkwürdigen Pausen gelebt; in anfallsweisen Zerknüllungen und merkwürdigen Pausen.
»Wie geht’s dir?«
»Oh, gut. Ich strenge mich an. Ich meine, ist alles irgendwie anders ohne deine Mutter, aber geht schon. Ich hab einen neuen Job. Keine Versicherungen mehr. Autos. Langweilige Büroarbeit.«
Merkwürdige Pause Nummer drei. Dann fiel es ihm ein.
»Und wie geht es dir so?«
Svenja sah auf die Seite des Bettes, auf der Nashville geschlafen hatte. Gewöhnlich schlief er noch, wenn sie aufwachte; seit sie ins Haus Nummer drei gezogen waren, schlief er mehr. An diesem Morgen war der Platz an der Wand leer. Natürlich bedeutete es nichts. Warum machte sie sich Sorgen?
»Ich habe auch einen neuen Job«, antwortete sie. »Und ich lerne unsinnige Dinge auswendig. Ich wohne in einem besetzten Haus, in dem der Strom durchs Fenster kommt … Und Mama war da …« Warum erzählte sie nichts von Nashville?
»Hört sich ziemlich gut an«, sagte ihr Vater. »Besetztes Haus und so. Wenn ich käme, hättest du einen Platz für mich frei? Auf dem Fußboden? Es wäre wie früher, weißt du, da haben wir auch dauernd bei irgendwelchen Leuten gepennt, in Häusern, die keinem so richtig gehörten …«
»Hast du das wirklich
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