Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
fand keine.
Da legte sie ihre Arme um ihn und drückte ihn an sich, ohne wirklich zu drücken, sie wollte ihm nicht wehtun, sie merkte, dass ihr Gesicht nass war von Tränen.
»Idiot«, flüsterte sie. »Idiot! Waren das die gleichen Jungen wie die in Hohenentringen?«
Da war etwas wie ein Nicken in ihren Armen. »Sie haben die Kette nicht gefunden«, flüsterte Nashville. »Ich habe sie versteckt. In meinem Schuh. Du magst sie doch, oder?«
»Sicher! Das ist die schönste Kette, die es gibt … Wir brauchen einen Arzt, wir brauchen …«
Jetzt war die Bewegung in ihren Armen ein Kopfschütteln. »Quatsch.«
»Zieh das Hemd aus!«
Aber es war Svenja, die es ihm auszog; seine Versuche, zu helfen, waren kläglich.
Und dann saß sie auf dem Küchenfußboden, in einem staubigen Strahl später Nachmittagssonne, und wusch mit einem alten Spülschwamm Blut und Dreck von einem Kinderkörper, dessen Alter sie noch immer nicht kannte. Wenn sie den Schwamm auswusch, hatte das Wasser die Farbe von dunkelroten Glasperlen.
»Ich bin nicht sicher«, sagte sie. »Aber ich denke, die Lippe muss genäht werden, und die Augenbraue auch.« Sie zog ihn noch einmal an sich, so vorsichtig wie möglich. »Was genau haben sie gemacht? Ich will es nur wissen, damit ich mir denken kann, was kaputt ist.«
»Sie hatten sehr viele Hände«, flüsterte Nashville. »Zwei hatten Hände zum Festhalten, die anderen hatten Fäuste. Dann lag ich auf dem Boden. Sie hatten auch sehr viele Füße zum Treten. Es nützt gar nichts, wenn man sich zusammenrollt. Einmal habe ich das gesehen, in einer anderen Stadt, wie sie jemanden fertiggemacht haben. Der hat sich auch zusammengerollt, und es hat auch nichts genützt. Als sie gegangen sind, hat er sich nicht mehr bewegt. Sie waren besoffen …«
Der Wortwasserfall war dabei, zu gerinnen.
»Die Jungen waren auch besoffen. Nicht von Bier oder von Schnaps. Davon, dass sie das machen konnten. Dass ich kleiner war. Es hat nur nichts genützt.« Er lächelte jetzt, sie hörte es in seinen geflüsterten Worten. »Die Kette habe ich trotzdem hergebracht.«
Sie beugte sich zu ihm hinunter. Er hatte die Augen geschlossen. Sie wagte nicht, ihn zu schütteln. Sie fühlte nach dem Puls an seinem Hals – und ihre Finger lagen einen Moment lang auf der Stelle, an der jemand Sirja die Kehle durchgeschnitten hatte. Der Puls war deutlich zu spüren. Aber wenn sie ihn getreten hatten, hatte er vielleicht innere Verletzungen. Eine Gehirnerschütterung. Gebrochene Rippen. Wäre sie nur schon weiter gewesen mit dem verdammten Studium!
Sie holte das Handy aus der Tasche und wählte die Nummer in der Hektik dreimal falsch. Dann war er da.
»Hier … hier ist Svenja. Wir brauchen dich. Nashville ist … etwas passiert.«
»Was?«
, fragte er. »Ist der Typ mit dem Messer …?«
»Nein. Er hat sich von ein paar älteren Jungs zusammenschlagen lassen, weil er … egal. Ulrichstraße drei. Komm schnell.«
»Ich kann nicht«, sagte Gunnar gequält. »Ich bin im Dienst. Geh zur Notaufnahme in der Klinik. Weißt du, wo …«
»Sie werden ihn melden! Gunnar, werd krank! Komm her! Bitte!«
»Ich
kann nicht
!«, wiederholte er. »Svenja, ich habe einen Job! Begreifst du das nicht? Hör zu, ich gebe dir jetzt die Adresse von einem Allgemeinarzt, der nicht nach Papieren fragen wird. Sag ihm einen Gruß von mir. Hast du was zu schreiben?«
Sie sah sich in der Küche um. Dreckiges Geschirr, Schimmelflecken an der Wand, überfüllte Aschenbecher. Ein Haufen ungewaschener Wäsche, Stücke von undefinierbarem Essen unter einem Schrank, umgefallene Zeitungsstapel. Einen Moment lang dachte sie klar und deutlich:
Ich muss hier weg
. Aber da ging die Tür auf, und Friedel stand darin.
»Diktier einfach«, sagte sie ins Telefon. »Wir merken uns das. Schmidt. Europaplatz zwei. Beim Bahnhof. Okay.«
»Europaplatz zwei«, wiederholte Friedel. Dann sah er Nashville an – die zugeschwollenen Augen, die Platzwunden, den Dreck und das Blut, die noch immer sein Haar verklebten. Sie konnte spüren, wie ihm übel wurde, es war dasselbe wie im Präp-Kurs.
»Ich erkläre es dir später«, sagte Svenja. »Komm. Wir fahren.«
Sie setzten Nashville auf Svenjas Gepäckträger, Katleen ging nebenher und hielt ihn fest.
Sie war kurz nach Friedel in der Küche aufgetaucht, und ihr war nicht übel geworden.
»Nähen könnte man auch zu Hause«, sagte sie nüchtern, »mit dem entsprechenden Desinfektionszeug und dem richtigen
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