Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Moment.
12 Spiegel
Das Leben im Haus Nummer drei schmeckte anders als das Leben in der kleinen Wohnung am Jakobusplatz. Ein wenig nach Licht auf altem Holz und ein wenig nach den Cannabispflanzen, die auf dem Balkon der Sonne entgegenwuchsen. Ein wenig nach Kerzenwachs, das über Flaschenhälse lief, ein wenig nach Gedankenlosigkeit und ein wenig nachdenklich. Manchmal gab es zu viele Besucher, und man musste die Tür hinter sich schließen, um nicht Teil einer niemals endenden Party zu sein. Manchmal war es still, und man hörte das Haus wispern. Dann spielten die verschiedenen geklauten Gläser im Regal hohe, stille Töne nur für sich selbst.
Friedel saß in der Küche neben Svenjas Topfsonnenblume und lernte Anatomie für das Nachtestat. Er hatte dicke Verbände an beiden Händen, und Nashville half ihm beim Umblättern. Zwischendurch schrieb er Buchstaben auf den Tisch. Er konnte jetzt das J schreiben:
SVENJA .
JA .
Friedel hatte Svenja nie erzählt, was er zu Nashville gesagt hatte, damit er vom Dach herunterkam. Und Svenja hatte noch immer kein zerbrochenes Fenster gefunden, das seine Schulterwunden erklärte. Aber sie hatte aufgehört, danach zu suchen.
Sie arbeitete jetzt im
Contigo
zwischen Hängematten und Kaffee, und wenn sie abends nach Uni und Arbeit nach Hause kam, kochte sie mit Thierry oder Kater Carlo Spaghetti und half Friedel mit den Knöpfen an seiner Kleidung. Bisweilen führte das dazu, dass sie miteinander schliefen. Aber nur bisweilen. Wenn es nicht dazu führte, hörte sie ihn abends mit den anderen losziehen. Ein paarmal ging sie mit und ließ Nashville alleine zurück, schlafend. Aber meistens war sie zu müde.
»Ja«, sagte Gunnar, als er einmal ein Pfund Kaffee im
Contigo
kaufte. »So war es bei mir im Studium auch. Aber es ist gut, Geld zu verdienen.«
»Es häuft sich an«, sagte Svenja. »Wenn sie die Wohnung restauriert haben, können wir wieder einziehen.«
Sie war sich allerdings nicht mehr sicher, ob sie das wollte. Vielleicht wollte sie etwas ganz anderes mit dem Geld tun. Sie könnte Nashville einpacken und mit ihm wegfahren, nur für eine Woche, irgendwohin. Er hatte ganz sicher eine Menge Irgendwos noch nicht gesehen.
»Wir hatten schon länger keinen Panikanfall mehr«, sagte Svenja am Telefon zu ihrer Mutter. »Nashville geht ab und zu mit in den Laden, in dem ich arbeite, und guckt sich die Sachen an.«
Sie sah sich um – sie telefonierte vom Laden aus. Nashville stand auf Zehenspitzen vor einem kleinen silbergefassten Spiegel an der Wand, über dessen Rahmen bunte Ziervögelchen flogen, und studierte sein Gesicht. Er hatte sich die Haare mit einem Gummiband aus der Küche des Hauses Nummer drei zu einem Pferdeschwanz gebunden und schien zu überlegen, ob das eine Verbesserung war.
»Die Frau, der der Laden gehört, ist nett«, sagte Svenja. »Sie meint, es ist okay, wenn Nashville mitkommt. Er passt ja auch hierher – wir könnten ihn als peruanisches Straßenkind ins Schaufenster stellen. Sie hat nicht gefragt, wer er ist.«
»Du denkst also nicht mehr darüber nach, ihn abzugeben.«
»Ihn … abzugeben? Nein«, sagte Svenja.
»Svenja … eigentlich habe ich angerufen wegen nächster Woche …«
»O Gott, habe ich einen Termin vergessen? Muss ich nächste Woche irgendwo sein?«
Ihre Mutter lachte. »Nein. Du hast nur Geburtstag.«
»Oh«, sagte Svenja. »Das war mir irgendwie … entfallen.«
»Wünschst du dir irgendetwas?«
Svenja überlegte.
Ich wünsche mir, dass Gunnar heute in den Laden kommt, aber das habe ich mir schon gewünscht, als ich der peruanischen Volkstanzgruppe fünfzig Cent gegeben habe. Ich wünsche mir, dass dieser Typ mit dem Messer einfach nie mehr auftaucht und vergessen wird. Ich wünsche mir …
»Ich wünsche mir nichts«, sagte sie. »Mach’s gut.« Damit legte sie auf.
»Ihn … abzugeben?«
Svenja zuckte zusammen. Der Frager trat hinter einer schmalen Vitrine mit Schmuck hervor wie hinter einem Baum. Gunnar. Danke an die Peruaner.
»Ja«, sagte Svenja. »Meine Mutter findet, ich sollte das tun. Nashville irgendwo anders hinbringen. Weil woanders vielleicht jemand herausfindet, wieso er Panikattacken hat. Und weil ich nicht genug Zeit für ihn habe.«
»Aber?«
»Aber alles«, sagte Svenja. »Ich kann ihn nicht abgeben! Wir sind umgezogen, zusammen. Und ich glaube, er fühlt sich wohl da, wo wir jetzt wohnen, im Haus Nummer drei.« Sie sah zu Nashville hinüber, aber Nashville schien nicht
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