Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
hinein. »Er hatte nichts.«
»Jemand hat ihn selbst reingeworfen«, sagte Nashville. Svenja legte einen Arm um ihn. Und sie fragte sich, ob der Jemand wirklich gehofft hatte, die Leiche würde nie gefunden werden. Ob er das Wehr vergessen hatte.
»Ich habe seine Kleider«, sagte sie. »Hier. In der Plastiktüte.«
Nancy nahm den alten Pullover und das T-Shirt heraus und steckte sie in ihren Rucksack. »Schade drum«, sagte sie. »Passt vielleicht. Die Hose nicht.« Dann stellte sie sich auf die Mauer, holte weit aus und schleuderte die alte, zerfetzte Jeans in die Luft. Sie sahen zu, wie sie sich ausbreitete und in Zeitlupe zum Wasser hinuntersegelte.
Da war ein Kahn, ein einziger Stocherkahn. Die Passagiere auf den schmalen Holzbänken hoben die Köpfe, um den Flug der Hose zu verfolgen. Plötzlich, mit einer seltsamen Sekundenverzögerung, erkannte Svenja, wer in dem Kahn saß, und sie schüttelte den Kopf, da dies für einen Zufall etwas zu zufällig war.
»Gunnar«, sagte Svenjas Vater.
»Und seine Freundin«, sagte Svenja.
»’Ne Prinzessin«, sagte Nancy, versunken wie in den Anblick eines Kinoplakats. »Und dazu noch zwei kleine Prinzessinnen! Sind das die Kinder von denen? Ich wollt’ auch immer Zwillinge …«
»Und?«, fragte Nashville. »Hast du welche gekriegt?«
Nancy nahm ihre Gitarre und kletterte von der Mauer. »Fast«, sagte sie. »Ich mein, vielleicht wär’n es ja zwei geworden, weiß man ja nicht.«
Svenja sah sie an, ihre Kettenraucherfalten, ihr Schulterzucken. »Hat uns damals nicht in den Kram gepasst«, sagte sie. »Ham’s wegmachen lassen. Vielleicht hat’s auch nur ihm nicht in den Kram gepasst. Arschloch. Lange her.« Damit warf sie einen letzten Blick auf die Prinzessinnen im Boot, drehte sich um und ging. »Nancy!«, rief Svenja. »Warte! Du kannst nicht alleine hier draußen bleiben! Das ist zu gefährlich!« Es klang lächerlich, wie sie, Svenja, Nancy etwas zu befehlen versuchte.
»Oh, ich bleib nicht allein«, sagte Nancy. »Hab meine Connections. Die Peruaner ham ’ne billige Absteige. Die mit den nervigen Panflöten.«
»Ich gehe auch ein Stück, denke ich«, sagte Svenjas Vater. »Wollte mir doch die Stadt angucken. Das letzte Mal, dass ich hier war, ist zwanzig Jahre her. Sehen wir uns nachher in deiner WG ?«
Svenja nickte ein Danke. Danke, dass du uns einen Moment lang allein lässt.
»Nashville, ich …«, begann sie und brach ab.
»Da waren’s nur noch zwei«, sagte Nashville, und die Ironie schien viel zu erwachsen für seine Kinderstimme. »Nancy und ich. Ich muss ihn kriegen, bevor wir nicht mehr da sind. Ich muss das endlich auf den Kopf stellen.«
»Das? Was?«, fragte Svenja.
»Schau«, sagte Nashville. »Sie winken.«
Wirklich, Julietta und die Zwillinge schwenkten ihre weißen Strohhüte. Und dann änderte der Kahn die Richtung und lag gleich darauf unter ihnen.
»Svenja!«, rief Julietta. »Wollt ihr mit? Wir grillen bei uns im Garten! Falls wir nicht gleich einregnen.«
Svenja sah Nashville an. Er zuckte die Schultern. »Man könnte mitgehen«, sagte er.
Da nickte Svenja. »Komm«, sagte sie und sprang. Julietta reichte ihr eine blasse, schlanke Hand, um sie an Bord zu ziehen. Als Svenja auf einer freien Bank saß, klatschnass und frierend im Sonntagsgrau, war die Mauer über ihnen leer. Nashville war verschwunden.
»Sieht aus, als hätte er doch keine Lust«, sagte Svenja und lächelte entschuldigend. »Er ist etwas … eigen.«
»Schade«, sagte Julietta. »Ich hätte ihn so gerne kennengelernt.«
Svenja fluchte lautlos, während Gunnar den Kahn wieder auf den Fluss hinaus und an den Häusern der Tübinger Postkartenkulisse vorbeisteuerte. Sie hätte nicht springen dürfen, sie hätte auf das »Aber« warten müssen, das nach Nashvilles »Man könnte mitgehen« kam. Oder vielleicht hatte er gehofft, das »Aber« käme von Svenja. »Man könnte mitgehen, aber lass uns allein hier sitzen bleiben. Lass uns endlich darüber reden, was passiert ist.«
Julietta lächelte ihr zu. Warum lädst du mich ein?, wollte Svenja fragen. Dein Verlobter hat die letzte Nacht – die halbe jedenfalls – in meiner WG verbracht. Ohne dich.
»Schön, dass du mitkommst«, sagte Julietta.
Und Svenja begriff: Julietta hatte beschlossen, sie aktiv kennenzulernen, damit sie keine Gefahr werden konnte. Natürlich war es lächerlich. Die Wahl fiel wohl nicht schwer zwischen der absoluten Schönheit und dem zerzausten Vogel mit den bunten Garnsträhnen
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