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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Schrank, auf den Kleiderstapel, schloss die Tür und stellte sich auf den Kopf.
    Die Tränen liefen jetzt nicht mehr über ihre Wangen, sondern über ihre Stirn, als bewegten sie sich nach oben, auf einen imaginären Himmel zu.
    Seltsam. Irgendwann wurde alles besser. Sie kletterte aus dem Schrank und holte tief Luft. Auf ihrem Bett saß ihr Vater.
    Sie setzte sich neben ihn, schweigend. »Wo ist Nashville?«, flüsterte sie nach einer Weile.
    »Losgegangen, um es dieser Frau zu sagen, der mit der Gitarre … Thierry meinte, er solle hierbleiben, aber er ist einfach gegangen.«
    »Er sucht Nancy.« Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Er ist nicht älter als elf … Und er geht zu Nancy, während ich mich hier verstecke und mir selber leidtue.« Sie versuchte zu lächeln. »Bin ich ein furchtbarer Mensch?«, fragte sie ins zerknitterte Gesicht ihres Vaters. »Bin ich egoistisch? Nashville … Du kennst seine Geschichte nicht. Er ist mir quasi zugelaufen, aber ich habe es nie hinbekommen, auf ihn aufzupassen, nicht wirklich … Und dann lande ich dauernd mit irgendwem im Bett … oder nicht im Bett … ohne dass es wirklich etwas bedeutet … Aber letzte Nacht, da hat es etwas bedeutet, ich meine, nichts, was mit Liebe zu tun hat, nur mit dem Menschsein an sich.«
    Sie lehnte sich an ihren Vater, und er fuhr ihr ganz sacht übers Haar. Sie hatten nicht mehr so gesessen, seit sie sehr, sehr klein gewesen war. Später war er immer der unstete Wirbelwind gewesen, an den man sich nicht anlehnen konnte, weil er nicht standhaft genug war.
    »Du bist nicht furchtbar und nicht egoistisch«, sagte er jetzt leise. »Was genau ist denn passiert, Svenja? Gestern Nacht?«
    »Wir waren oben beim Schloss. Er hat mir erzählt, wer er ist, und es war eine so traurige Geschichte, und dann sind wir in diesem Garten gelandet, und den Rest kannst du dir denken. Er wusste, dass jemand da war. Er hat mich nach Hause geschickt, und ich bin gerannt. Das ist nicht der erste Mord. Es ist der dritte. Die anderen beiden habe ich nicht gekannt. Den einen ein bisschen, aber nicht richtig …« Sie hörte sich weiterreden, hörte sich Fakten aufzählen und fragte sich, in welche Reihenfolge man sie bringen musste, damit die Puzzlestücke ein Bild ergaben. Ihr Vater hörte lange einfach nur zu.
    »Wenn du deine Mutter anrufen würdest«, meinte er schließlich, »dann würde sie sagen: Geh zur Polizei. Du bist vielleicht die Letzte, die mit dem Jungen gesprochen hat. Erzähl den Leuten bei der Polizei alles. Du hättest es längst tun sollen.«
    Sie sah zu Boden. »Ja. Natürlich.«
    »Und sie hätte recht, deine Mutter. Sie hat immer recht. Das kann auf die Dauer anstrengend sein.«
    Svenja nickte. »Aber du? Was denkst du? Was soll ich tun?«
    »Nashville suchen«, sagte ihr Vater.
    Da lachte Svenja. »Das kann ich wenigstens inzwischen richtig gut. Ich tue es dauernd.«
     
    Als Svenja im Schrank nachsah, war das violette Hemd nicht dort.
    Und in der Küche lag kein Präpariermesser.
    In der linken Dachkammer sang der Wind im zerstörten Gebälk, und der Himmel bezog sich schon wieder. Ein Windstoß kam durchs offene Küchenfester und fegte die Spielkarten vom Regal: Wölfe und Menschen, Bürger und Blinzler.
    Svenja holte die Kleider des Jungen zwischen den Zeilen, stieg auf das gelbe Rad und nahm ihren Vater auf den Gepäckträger.
    Die Mauer lag, eigentlich, in einem Sonntagmittag. Doch dieser Sonntag war noch immer ein Grautag, und die wenigen Leute, die auf der Mauer saßen, sahen nicht aus wie fröhliche Touristen oder sorglose Studenten. Sie sahen aus wie Krähen. Der Hölderlinturm nahe der Mauer war an diesem Tag kein Denkmal mehr, sondern ein Gefängnis.
    Svenja hörte die Melodie durch die ersten Tropfen eines zögerlich beginnenden Regens.
    Unsere beiden Schatten
    sah’n wie einer aus,
    dass wir so lieb uns hatten,
    das sah man gleich daraus …
    Svenja setzte sich schweigend neben sie. Nancys vorgealtertes Gesicht war noch älter geworden. Die Töne ihrer Gitarre passten nicht zu denen des Akkordeons, aber das hatten sie nie getan. Svenjas Vater setzte sich ebenfalls auf die Mauer. »Was tun wir hier?«, fragte er.
    »Das ist eine Beerdigung«, flüsterte Svenja.
    Nashville spielte weiter, und seine Kinderstimme hängte zu den Tönen Worte in die Luft:
    Und sollte mir ein Leid gescheh’n,
    wer wird bei der Laterne steh’n,
    mit dir, Lili Marleen?
    »Es gibt nichts reinzuwerfen«, sagte Nancy mitten in das Lied

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