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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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nur Sachen mit M.« Svenja lachte. »Medizin und Merkwürdige-Dinge-Erleben.«
    Katleen nickte. Sie stützte beide Ellenbogen auf den Tisch, sodass ihre Augen Svenja noch näher waren, sie sah in Svenjas Augen hinein, so intensiv, dass sie hinten vielleicht wieder heraussah.
    »Warum Medizin?«, fragte sie. »Du siehst nicht danach aus.«
    »Ich … ich gehe vielleicht in die Entwicklungshilfe. In irgendein warmes Land. Dachte ich.«
    »Ach so.« Katleen schob ihren leeren Teller weg. »Na dann. Ich meine, sonst mag ich Ärzte nicht … Vor ein paar Tagen war ich oben bei den Roßwiesen und hab gemalt, abends. Und direkt neben mir hat ein Rudel Jungärzte einen Grill aufgebaut. Die waren so wichtig, das kleckerte direkt in die Wiese. Der eine hat mir ein lauwarmes Bier angeboten, kam sich unheimlich toll vor …« Sie schüttelte sich.
    »Ich verspreche, nie dort zu grillen und dir ein Bier anzubieten. In den … was für Wiesen?«
    »Die Roßwiesen. Direkt über der Stadt. Ist schön dort, eine Menge Blumen. Ich kann sie dir zeigen. Irgendwann.« Sie beugte sich noch ein wenig weiter vor. »Du siehst verdammt müde aus. So, als könntest du dich genau jetzt in eine solche Wiese legen und einschlafen.«
    Svenja schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Ich muss in einer Stunde bei meinem Histo-Kurs sein.«
    »Wenn du willst … Ich hab ein zweites Fahrrad im Keller stehen«, sagte Katleen. »Meine Mitbewohnerin … Es war ihrs, aber sie hat es nicht mitgenommen, als sie gegangen ist. Es ist natürlich ziemlich schrottig, aber besser, als zu Fuß durch die Stadt zu laufen. Hattest du wenigstens eine nette Nacht? Mit irgendeinem Typen?«
    »Quatsch«, sagte Svenja. »Ich bin eingeschlafen, am Küchentisch. Das habe ich vorhin schon gesagt. Es stimmt. Ich … Das ist eine sehr seltsame Geschichte, ich …« Sie sah Katleen an. Katleens Augenlider mit den dunklen Wimpern blinzelten nur sehr selten. Svenja nahm Anlauf und sprang über die Hürde völliger Fremdheit.
    »Da gibt es diesen Jungen«, sagte sie. »Es ist kein Kanarienvogel, natürlich. Er ist einfach in meiner Küche aufgetaucht … und ich weiß nicht, wo er hingehört. Er war nachts verschwunden, und dann war er wieder da und hat geschluchzt, ist aber nicht aufgewacht … Es war keine sehr ruhige Nacht. Er ist wie eine merkwürdige Art von Haustier. Beantwortet keine Fragen, nichts. Gerade jetzt sitzt er unter meinem Küchentisch und sieht sich die Bilder in
Andersens Märchen
an. Die kleine Meerjungfrau …« Erst in diesem Moment begriff Svenja die Parallele. Ein stummes Kind und eine stumme Märchengestalt, ihre Stimme verkauft für den Preis der Menschlichkeit.
    »Was würdest du tun?«, fragte sie. »Wenn dir dieser Junge zugelaufen wäre?«
    »Ich kann ihn mir ja mal ansehen, wenn du willst. Ich kann versuchen, mit ihm zu reden.«
    »Bitte, versuch es.« Svenja breitete hilflos die Arme aus. »Die Frage ist, ob er mit dir redet.«
    Eine Viertelstunde später öffnete Svenja ihre Wohnungstür und ging voraus in den Flur.
    »Hallo?«, rief sie, ein leises, vorsichtiges Rufen, so wie man ein möglicherweise wildes Tier ruft. »Erschrick nicht, ich habe eine … eine Freundin mitgebracht!«
    Sie ging voraus in die Küche. Andersens Kunstmärchen lagen auf dem abgeräumten Tisch. In der Spüle stand ein Brotbrett, nicht zwei, und eine Tasse. Ansonsten war die Wohnung ein Chaos aus auseinandergefalteten und wieder zusammengelegten Sachen – Kleidern, Küchentüchern, Handtüchern. Als hätte jemand etwas gesucht und dann notdürftig versucht, die Spuren seiner Suche zu verwischen.
    Überflüssig zu sagen, dass der Junge nicht da war.
     
    Katleens Fahrrad oder das Fahrrad ihrer ehemaligen Mitbewohnerin war sonnengelb und passte daher, hatte Katleen gesagt, zu Svenjas Turnschuhen. »Natürlich«, hatte Svenja geantwortet, »ich suche mir die Fahrräder immer nach meinen Schuhen aus.«
    Der Schnarrenberg war leider trotz des gelben Fahrrades nicht niedriger geworden.
    Sie kam zu spät. Schon wieder.
    Als sie den richtigen Raum im Anatomischen Institut gefunden hatte, saß der Rest des Semesters bereits im Halbdämmer langer Tischreihen, die Köpfe über Mikroskope gebeugt. Auf mehreren Monitoren flackerte ein Bild des jeweiligen Präparats, das zeigte, wie es auszusehen hatte, wenn man das Mikroskop richtig einstellte.
    Alle sahen auf, als sie die Tür öffnete.
    »Ich … Verzeihung«, murmelte Svenja und zwängte sich zum letzten freien Platz

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