Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
ab.
Nashville war ebenfalls aufgestanden. Er stand neben Svenja, als rechnete er damit, sie verteidigen zu müssen.
»Wo wohnt ihr?«, fragte Gunnar. Er klang wie ein ärgerlicher Anatomieprofessor.
Frau Wedekind. An dieser Uni ist es üblich, pünktlich zu erscheinen.
»So, wie es regnet, wohnen wir heute vermutlich unter der Brücke über die Neue Ammer, beim Parkhaus König«, sagte Svenja leise.
»Nein«, sagte Gunnar. »Das tut ihr nicht. Ihr wohnt bei mir.« Er winkte der Mutter der Zwillinge noch einmal, rief etwas auf Italienisch, eine Erklärung, eine Abschiedsfloskel, und sie nickte, ehe sie endlich den Hang hinab verschwand.
»Wie lange geht das schon so?«, fragte Gunnar.
Sie rechnete. »Acht Tage?«
Gunnar schüttelte den Kopf. »Und da draußen rennt irgendwo jemand rum, der es auf genau solche Leute abgesehen hat. Ihr habt ja beide den Verstand verloren.« Er nahm sie am Arm. »Nashville? Kommst du?«
»Nein«, sagte Nashville. »Ich … Das hier ist mein Zuhause. Nimm Svenja mit. Sie kann ohne mich zu dir gehen.«
Damit packte er das Akkordeon fester und rannte übers regennasse Pflaster, die Straße hinab, in die Stadt und die Nacht hinein, und war fort.
16 Blumentöpfe
Gunnar gab etwas von sich, das einem Knurren entfernt ähnelte.
Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Geh ihm nicht nach. Nashville kann man nicht einfangen. Man muss warten, bis er von selbst zurückkommt.«
»Das werden wir ja sehen«, sagte Gunnar.
Und dann rannte er.
Er war schnell, sie hatte nie jemanden so schnell rennen sehen. Sie schnappte ihren Rucksack und rannte ihm nach, die steile Straße vom Schloss hinab, doch der Regen und die Dunkelheit verschluckten ihn, wie sie Nashville verschluckt hatten. Und für einen Moment lang dachte Svenja:
Ich werde sie nie wiedersehen, keinen von beiden. Sie werden verschwinden wie Friedel und Kater Carlo und Thierry, wie Katleen. Alle verschwinden, alle, die mir etwas bedeuten
.
Sie erreichte die Stelle, wo die Straße sich dreifach gabelte. Genau hier hatte sie Nashville schon einmal verloren. Sie merkte, dass sie in einer Pfütze stand, das Wasser drang durch die gelben Turnschuhe, drang in ihren Körper, stieg von unten in ihr auf und machte von innen ihre Augen feucht. Sie hatte es satt, Leute verschwinden zu sehen. Sie hatte es satt, dass alles schiefging. Sie hatte es satt, groß und selbstständig zu sein.
Und da tauchte Gunnar aus der nassen Dunkelheit auf, genau in dem Moment, als sie sich am meisten danach sehnte, dass er auftauchte. Er schleifte Nashville nicht mit sich. Er trug ihn. Svenja sah sie kämpfen, noch im Gehen; Nashville trat und kratzte und biss, doch Gunnar war zu stark für ihn. Und Gunnar war entschlossen, genauso entschlossen wie Nashville.
»Du kannst … Verdammt … Du kannst machen, was du willst«, hörte sie Gunnar zwischen den Zähnen hervorpressen. »Ich … au! … Ich lasse dich nicht los. Ich trage dich bis zu mir nach Hause, wenn es sein muss. Ich lasse dich nicht noch eine Nacht hier draußen schlafen, und schon gar nicht alleine, nicht mit einem Verrückten in der Stadt. Tut mir leid, dass ich so zu dir sein muss, aber es geht nicht anders.«
Svenja sah Nashvilles Augen blitzen, die Dunkelheit darin sprühte Funken.
Dies war offenbar eine neue Erfahrung für ihn. Vermutlich hatte ihn noch nie jemand wirklich festgehalten oder ihn zu irgendetwas gezwungen.
Gunnars Entschlossenheit machte ihr Angst, und zugleich war sie unendlich erleichtert. Jemand kümmerte sich. Jemand nahm ihr die Verantwortung ab, und sei es für Minuten.
»Hol du das Akkordeon«, zischte Gunnar und nickte in die Richtung, aus der er gekommen war. »Das steht da noch.«
Sie gehorchte, froh, nicht mehr selbst entscheiden zu müssen, was sie tat. Und dann gingen sie zu dritt nach Hause. Zu Gunnar nach Hause. Nashville gab das Kämpfen auf der Hälfte des Weges auf, aber Gunnar hielt ihn trotzdem weiter fest, für den Fall, dass er versuchte, wieder auszubrechen. Ab und zu sah Svenja Nashvilles dunkle Augen wütend blitzen, das war alles.
»Alles wird gut«, flüsterte sie. »Nashville, alles wird jetzt gut. Wir brauchen keine Angst mehr zu haben. Nashville? Bitte …«
Aber da hatte er die Blitze schon hinter seinen Lidern verschlossen. Er schlief. Schlief auf Gunnars Armen, völlig verausgabt.
Gunnar trug ihn bis zu seiner Wohnung. Die Wohnung lag unten am Neckar, nur einen Gedanken von der Mauer entfernt, auf der die Beerdigungen der Leute
Weitere Kostenlose Bücher