Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
bestellte zwei Tassen Milchkaffee, und der späte Nachmittag rutschte in einen lauen Abend hinüber, und der König fuhr hinter ihnen Fahrrad, und der kleine Vogel auf seinem Lenker sang an diesem Abend. Ganz leise. Das Licht glänzte auf Holzens Haar wie dunkles Kupfer.
Und sie begriff es nicht – warum hatte er Zeit für sie? Sie kam sich vor wie eine streunende Katze, aus lauter Dankbarkeit wäre sie gerne auf seinen Schoß geklettert und hätte geschnurrt. Eine streunende Studentin.
»Sie wollten doch arbeiten«, sagte sie. »Irgendwas mit dem Laptop.«
»Doktorarbeit. Ja.« Holzen legte den Kopf in die Hände, und die ganze wache, helle Energie fiel mit einem Mal von ihm ab. Sie sah jetzt die Schatten unter seinen Augen wieder. »Ich bin ziemlich müde, weißt du. Ich hatte Nachtdienst, und ich sitze seit morgens an der Doktorarbeit. Vergleiche Daten, baue Tabellen … Die Zahlen werden immer kleiner, je müder man ist. Ich bin zu müde für die Zahlen. Um dich abzufragen, bin ich noch wach genug.« Er sah sie einen Moment lang an. Wie eine Landschaft, die man betrachtet, um die Augen zu entspannen. Es war seltsam; er legte seine Augenringe in diesen betrachtenden Blick und schloss ihn wie ein Etui, in dem er seine Müdigkeit verwahrte. »Manchmal wäre ich gerne wieder so jung wie du«, sagte er leise. »Jung und wach. Natürlich hat es auch Nachteile. Wenn man woanders lernen gehen muss, weil es in der WG zu laut ist. Oder … im Studentenwohnheim?«
»Ich wohne alleine«, sagte Svenja. »Altbau, unsaniert, Jakobusplatz. Keine WG .«
Er hob die Augenbrauen, erstaunt. »Ganz alleine?«
»Ich … nein.« Svenja fischte eine weiße Kastanienblüte aus ihrem Kaffee. »Da ist … ein kleiner Junge. Nashville. Er ist mir quasi zugelaufen. Er … war in meiner Wohnung, im Schrank. Umgekehrt. Voller Schrammen und mit Blättern im Haar, als wäre er durchs Gebüsch gekrochen … oder durch einen Wald. Neulich, da saßen Sie hier, und ich habe gewinkt, da war er dabei.«
»Du musst nicht Sie sagen«, sagte Holzen.
»Er«, sagte Svenja.
Holzen brauchte einen Moment, dann lachte er. »Ja. Ich erinnere mich jetzt. Und dieser Junge …?«
»Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Ich finde es noch raus. Er spricht nicht. Und er hat ein Bild gemalt, ganz rot, rot wie Blut, es war gar nichts mehr frei.«
»Vielleicht mag er die Farbe Rot.«
»Ja, vielleicht. Er … verschwindet nachts und schleppt seltsame Dinge an.« Sie sah in die grüne Weite des Kastanienbaumes hinauf. »Neulich hatte er ein Büschel Haare in der Faust, als er wiederkam.«
»Haare … von einer Puppe?«
»Ja«, sagte sie, erleichtert über diese Erklärung. »Von einer Puppe.«
Aber wo war Nashville nachts einer Puppe begegnet, und warum hatte er ihr eine Haarsträhne ausgerissen?
»Ich …«, begann sie und sah in Holzens helle Augen.
Ich habe Angst. Seit letzter Nacht, seit dem Spielplatz, habe ich Angst.
Sie sagte es nicht. Sie sagte: »Die Armnerven. Würden Sie … würdest du mich die auch noch abhören? Das wäre unglaublich nett.«
»Ja«, sagte Holzen und strich sein Haar aus dem Gesicht. Er lächelte, nur ein wenig. Sein Lächeln wurde durch die Sommersprossen jünger und durch die Müdigkeit wieder älter. »Ja«, wiederholte er, »einmal pro Woche bin ich ein netter Mensch.«
Später, viel später, lag Svenja alleine im Bett und dachte über den guten Menschen Gunnar Holzen nach. Gunnar, der vermutlich noch immer nicht schlief, sondern wieder mit Zahlen und Tabellen kämpfte. Oder vielleicht hatte er auch in dieser Nacht Dienst. Sie hätte gern im Traum über sein Gesicht gestrichen und die Augenschatten von ihm genommen.
Ein bisschen dachte sie auch über Kater Carlo nach und über ihr Spanisch, das sie womöglich auffrischen sollte. Sie könnte Kater Carlo bitten, ihr Nachhilfe zu geben. Und sie dachte, dass das Leben doch im Allgemeinen ziemlich interessant war.
Unter dem Bett lag Nashville, sie hatten zusammen Pizza im Ofen aufgebacken.
Alles wird gut
, hatte Gunnar Holzen gesagt.
Vielleicht hatte sie die Sache mit der Kapuzenstimme auf dem Spielplatz nur zusammenphantasiert. Pitu reicht tief.
Alles wird gut
…
Am nächsten Tag fiel sie durch das Anatomietestat.
9 : 10
Svenja saß im Bett und starrte den Wecker an. Sie war nicht durch das Testat gefallen.
Sie hatte geträumt.
Verdammt, sie musste den Kittel noch bügeln. Sie hatte keine Zeit. Sie stieg in die ordentlichsten Sachen, die sie
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