Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Bäumen und wispernden Frühlingsbrisen, gab es eine Wiese, und Svenja fiel mitten hinein in ein Meer von Gänseblümchen. Sie schlug den
Schiebler
auf, legte sich auf den Rücken und las anatomische Begriffe, die in den Himmel aufstiegen wie Seifenblasen. Sie schlief fest, ehe sie überhaupt denken konnte ›Ich schlafe ein‹.
Und natürlich bemerkte sie die Gestalt nicht, die sich im Schlaf über sie beugte. Als sie erwachte, war die Gestalt längst fort.
Svenja setzte sich mit einem Ruck auf. Verdammt. Es war später Nachmittag. Sie hatte den Tag verschlafen, statt zu lernen. Sie nahm die Spiegeltasche und stapfte in die Innenstadt zurück, ärgerlich auf sich selbst. Die Innenstadt war schön jetzt, voll freundlicher Feierabendruhe. Am Nonnenhaus verkaufte ein Italiener lautstark Gemüse. Im Garten des esoterischen Buchcafés nebenan diskutierten drei violett gekleidete Endsechzigerinnen über vegane Literatur. Svenja folgte dem Ammerkanal bis zu dem Platz, wo sich die Stühle von drei verschiedenen Cafés unter einer Kastanie scharten. Der König fuhr noch immer auf seinem altmodischen Fahrrad von nirgendwoher nach nirgendwohin.
Sie legte den schweren Anatomie-Atlas auf den letzten freien Tisch und bestellte einen Kaffee, der nicht kam. Vor ihr wanden sich die Nerven und Gefäße auf den Bildern wie Schlangen, die ihr die Luft abdrücken wollten.
»Ich schaffe das nicht«, flüsterte sie. »Es ist unmöglich, das vor dem Testat noch alles zu wiederholen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte jemand hinter ihr. Sie fuhr herum und stieß den Kaffee um, der doch noch gekommen war. Er ergoss sich über den
Schiebler
, über den Atlas, über den Tisch, floss auf Svenjas Hose … Und sie spürte etwas Kleines und Kindisches in sich aufsteigen wie ein wütendes Weinen. Sie fluchte stattdessen.
»Ich habe ein Taschentuch«, sagte Holzen.
»Ein Taschentuch reicht nicht, um das zu retten«, meinte Svenja und hob hilflos die Arme. Sie war unsicher, ob sie den Kaffeesee meinte oder die Anatomieprüfung oder ihr ganzes Leben.
Holzen fand einen Ständer mit Papierservietten. »Alles wird gut«, sagte er, beseitigte den See und zog das Buch zu sich heran. »Was ist das? Die neue Ausgabe vom
Schiebler
?«
»Nein«, sagte Svenja. »Das ist ein katalanischer Gedichtband.«
Er lachte. »Sei nicht so gemein«, sagte er. »Ein alter Arzt wie ich hat doch keine Ahnung mehr.«
»Wie alt sind Sie denn?«, fragte Svenja. »Hundert?«
»Uralt«, sagte er. »Einunddreißig. Der Arm … Himmel … Ich habe das alles vergessen. Du wirst es auch vergessen.«
»Danke.« Sie schnaubte. »Schon passiert.«
Sie wollte nett zu Holzen sein, sie wollte unbedingt und verzweifelt nett zu Holzen sein, aber aus ihrem Mund kamen lauter schnippische Kommentare.
»Wie geht es dem Fahrrad? Kette noch drauf?«
Svenja nickte. »Ich wünschte, ich müsste nur die Teile eines Fahrrads auswendig lernen. Gott, ich wünschte, ich
wäre
ein Fahrrad!«
Sie sah ihn an, wie er nachdenklich seine Nase mit den winzigen dunklen Sommersprossen knetete. Nein, dachte sie, sie wünschte nicht, sie wäre ein Fahrrad, denn ein Fahrrad könnte nicht mit Holzen reden. Er hatte sich auf einen der freien Stühle gesetzt, als wollte er bleiben. Vielleicht hatte sie noch eine Chance. Nett zu sein.
»Sie haben sicher zu tun?«, sagte sie und nickte zu seiner Laptoptasche hin.
»Ich könnte dich abfragen«, sagte Holzen, ohne seinen nachdenklichen Blick von ihr zu nehmen. »Damals wäre ich froh gewesen, wenn jemand mich abgefragt hätte. Ich habe nur nachts gelernt, und ich bin ständig dabei eingeschlafen …«
»Was war denn tags?«
»Tags habe ich gearbeitet«, sagte Holzen. »Um mein Studium zu finanzieren. Meine Eltern … fanden die Idee nicht so brillant, dass ich studieren wollte. Unnötig. Überkandidelt.« Er zuckte die Schultern. »Ich hätte den Handwerksbetrieb zu Hause übernehmen sollen. Sag mir die großen Arterien am Arm.«
Svenja hätte ihn lieber etwas über den Handwerksbetrieb gefragt.
»Das ist leicht«, protestierte sie. »Die großen sind leicht. Was ich nicht kann, sind …«
»Sag mir die großen Arterien am Arm«, wiederholte Holzen ruhig. Und da sagte sie ihm die großen Arterien am Arm und dann die kleinen, und von irgendwoher flossen die Worte zurück in ihren Kopf, die sie in den letzten Wochen gelernt hatte.
»Siehst du«, sagte Holzen. »Jetzt machen wir mit den Venen weiter. Die kannst du nämlich auch.«
Er
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