Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
schwarze Stoppelhaar, als streichelte sie einen Teddybären. Die Geste erinnerte Svenja auf merkwürdige Weise an Nils. »Was macht dein Findelkind da?«
»Nashville? Er schreibt einen Nachruf«, meinte Friedel, der bisher in der Konversation vergessen worden war. »Für die Tote vom Österberg.«
»Schöner Romantitel«, sagte Katleen, »›Die Tote vom Österberg‹.« Sie hob eines der sehr alten Brötchen auf, inspizierte es und legte es zurück. »Es war vorhin im Radio. Das mit der Leiche.«
»Und? Wissen sie schon, wer sie ist?«
Katleen schüttelte den Kopf. »Ist wohl noch keiner aufgetaucht, der sie identifizieren könnte. Sie wissen nur, woran sie gestorben ist. Messerstiche. Mehrere. Am Ende hat ihr der Typ wohl die Kehle durchgeschnitten, und das war’s. Das Messer war scharf, haben sie gesagt, ziemlich.« Der Blick unter ihren langen dunklen Wimpern war weniger ängstlich als fasziniert. »Sie ist wohl schon eine Weile tot«, setzte Katleen hinzu. »Zwei oder drei Wochen. Wäre ein interessantes Zeichenobjekt.«
»Was?«, fragte Svenja unbehaglich.
»Na, so eine halb verweste Leiche. Erlaubt dir aber keiner, in der Rechtsmedizin zu zeichnen, nicht als Student. Ich habe mal gefragt.« Sie zuckte mit den Schultern.
»Guck nicht so entsetzt, Svenja«, sagte Friedel. »Das ist nur Katleen. Die ist so. Oder jedenfalls versucht sie, so zu sein.«
»Aha«, sagte Svenja etwas flach.
»Also?«, fragte Katleen, schon halb im Gehen. »Halb sechs? Wir warten auf dich.«
»Kann ich Friedel mitbringen?«
Katleen seufzte. »Von mir aus.«
Als Svenja sie kurz darauf über den Jakobusplatz davongehen sah, ihr graues T-Shirt wieder über eine Schulter hinabrutschend, atmete sie tief durch. »Jetzt geht sie ihr Gemüse foltern«, sagte sie. »Kann es sein, dass es hier hauptsächlich Verrückte gibt?«
»Nein«, meinte Friedel freundlich. »Hier gibt es hauptsächlich Spießer. Die Verrückten sammeln sich nur um dich.«
Katleens Worte über halb verweste Leichen fuhren in Svenjas Kopf Karussell und begegneten dabei den Resten des Sudhaus-Alkohols, und auf einmal benahm sich ihr Magen seltsam.
»Ich bin gleich wieder da«, murmelte sie.
Sie erreichte das Bad gerade noch rechtzeitig, schloss die Tür ab, hielt sich am Waschbecken fest und übergab sich. Dann wusch sie sich das Gesicht, setzte sich auf den Plüschklodeckel und betrachtete ihr Bild im Klebespiegel gegenüber. Sie sah völlig fertig aus. Die bunt umwickelten Haarsträhnen schienen ihre Farben verloren zu haben, genau wie Svenjas Augen.
Vielleicht, dachte sie, träumte sie nur. Vielleicht würde sie gleich aufwachen, im Haus ihrer Eltern in Leipzig, und ihre Mutter würde rufen, sie solle endlich frühstücken kommen, und ihr Vater hätte im Wohnzimmer seine Musik zu laut aufgedreht …
Nein. Die Wohnung ihrer Eltern gab es nicht mehr. Ihre Mutter war alleine in einen anderen Stadtteil gezogen, und wo ihr Vater zurzeit wohnte, wusste sie nicht einmal.
Als sie zurück in die Küche kam, war Friedel alleine dort und sah zum Fenster hinüber, das offen stand.
»Wo ist Nashville?«, fragte Svenja alarmiert.
»Er ist … er ist irgendwie durchgedreht«, sagte Friedel perplex. »Ganz plötzlich. Er ist aus dem Fenster und aufs Dach raufgeklettert.«
»O nein«, sagte Svenja und ließ sich einfach dort, wo sie stand, auf den Boden fallen. »Schon wieder. Was hast du gemacht?«
»Nichts«, antwortete Friedel. »Er saß auf seinem Stuhl, mit der Zeitung, und ich habe … Was habe ich denn gemacht?« Er sah zum Tisch hin, auf dem das Netz mit den Limetten lag. »Ach so, ich habe eine von den Dingern da aufgeschnitten, um nachzusehen, ob sie noch gut ist. Sie sind alle ziemlich braun, war ein Sonderangebot … Ich habe erst gemerkt, dass er nicht mehr am Tisch sitzt, als er schon beim Fenster war. Er ist aufs Fensterbrett gesprungen wie ein Tier in Panik … Ich habe seinen Namen gesagt, aber ich glaube, er hat mich gar nicht gehört.«
»Womit hast du die verdammte Limette aufgeschnitten?«
Friedel hob ein Messer vom Küchentisch. »Thierrys Taschenmesser. War in meiner Radtasche, keine Ahnung, wieso.«
Er setzte sich neben Svenja auf den kühlen Fliesenboden, das Messer in der Hand.
»Es gibt eine Sache, bei der er austickt«, sagte Svenja leise. »Immer. Vielleicht sind es scharfe Messer.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Friedel hilflos. »Kriechen wir unter den Tisch?«
Svenja schüttelte den Kopf. »Wir lassen das Fenster offen
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