Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
nahm endlich die Hand weg.
Und merkte erst, als Nashville sich umdrehte und ging, dass das Wasser kalt geworden war.
Sie stellte es ab. »Verdammt! Das musste natürlich passieren.«
Friedel zuckte die Schultern. »Er wird’s überleben.«
»Klappe«, sagte Svenja böse.
Nashville saß am Tisch, als sie, angezogen, in die Küche kamen. Svenja spürte den Blick der dunklen Augen.
»Immerhin sitzt er nicht
unter
dem Tisch«, sagte Friedel.
Svenja nickte und durchsuchte den Kühlschrank nach einem Frühstück.
»Wir haben keine Milch für den Kaffee.«
»Wir haben geschmolzenes Vanilleeis«, sagte Friedel.
Nashville saß völlig reglos. Svenja seufzte und schmierte ihm ein Brot.
»Du musst was essen.«
Er aß. Langsam und sorgfältig. Einmal sah er dabei Friedel an, und in seinen Augen stand ganz eindeutig eine Art stiller Triumph.
Mir hat sie ein Brot geschmiert, dir nicht.
Unsinn, dachte Svenja, das bildete sie sich ein. Sie holte tief Luft und legte die Zeitung vor Nashville, sodass er das Foto von dem Stück Wald und den Polizisten sehen konnte.
»Hör zu«, sagte sie leise. »Sie haben gestern eine Frau gefunden, im Wald beim Österberg. Eine tote Frau. Du warst da. Ich bin dir nachgegangen … Du hast mit jemandem gesprochen. Weißt du, wer diese Tote ist? Du musst nur nicken oder den Kopf schütteln.«
Nashville sah das Bild von den Polizisten lange an.
»Weißt du, was in diesem Wald passiert ist?« Svenja versuchte, ihre Stimme sanft zu machen, aber sie war rau und zittrig und auch ziemlich verkatert.
Nashville stand auf. »Krieg jetzt keinen Panikanfall«, flüsterte Svenja. »Bitte!«
Doch Nashville ging nur zum Fensterbrett, nahm den letzten funktionierenden roten Fineliner und kehrte damit zum Tisch zurück. Dann setzte er sich wieder und begann, die Buchstaben in der Zeitung nachzufahren: E … N … V … I … A … L …
Er malte alle Buchstaben nach, die er kannte, er verteilte seine Identität quer über den Artikel mit der Überschrift
GRAUSIGER FUND AM ÖSTERBERG
, verteilte das rote Blut des Farbstiftes und ließ es ins graue Billigpapier sickern wie in Walderde. Er hatte den Kopf tief über die Zeitung gebeugt, völlig versunken.
»Die logischste Sache wäre, zur Polizei zu gehen«, sagte Friedel.
Svenja nickte. »Schon. Aber, Friedel, was werden sie mit Nashville machen, wenn ich ihnen erzähle, dass er da im Wald herumgelaufen ist? Sie werden ihm Fragen stellen, und er wird nicht antworten. Sie werden ihn in die Psychiatrie stecken oder sonst wohin. Sie werden ihn einsperren. Ich habe ihm versprochen, ihn hierzubehalten. Ihn nicht zu verraten. Ich muss auf andere Weise rausfinden, was passiert ist.«
Was sie in den letzten Wochen ja sehr effektiv getan hatte, dachte sie, nämlich gar nicht. Und vielleicht war die Psychiatrie wirklich der beste Platz für einen Jungen, der sich in den Buchstaben einer Zeitung versteckte. Friedel sah sie an, als ob er genau das sagen wollte.
Sie schüttelte den Kopf, bittend. »Sag jetzt nichts.«
»Nichts«, sagte Friedel.
In diesem Moment klingelte jemand und kam beinahe gleichzeitig die Treppe hinauf, sie hörten die Schritte überdeutlich im stillen Morgen.
Svenjas Herz machte einen erschreckenden Versuch, stehen zu bleiben. »Die Polizei«, flüsterte sie. »Sie sind schon hier. Aber woher wissen sie …?«
Die Wohnungstür quietschte. Die Küchentür quietschte etwas leiser.
In der Tür stand Katleen.
Sie sah von Friedel zu Svenja und zurück zu Friedel, und etwas in ihrem Gesicht setzte sich oder legte sich oder flockte aus, es war schwer zu beschreiben.
»Guten Morgen«, sagte Svenja.
»Morgen«, sagte Katleen knapp. »Ich wollte eigentlich fragen, ob du Lust hast, heute Nachmittag mit Stocherkahn zu fahren. Wir fahren mit ein paar Leuten aus der Kunstgeschichte. Ich dachte, Svenja, du bist sicher noch nie Stocherkahn gefahren.«
»Nein, aber …« Ihr Kopf dröhnte. Der Zeitungsartikel, Nashville, die Sudhaus-Party, Friedel auf dem Boden bei der Kirche … Es war alles etwas zu viel.
»Ich kann gerade nicht denken«, sagte sie. »Eigentlich muss ich schlafen. Aber ich fürchte, wir haben nachher … Was haben wir? Terminologie. Latein für Anfänger.«
»Prima«, sagte Katleen. »Du schläfst in Latein, dann kommst du mit zum Kahnfahren. Halb sechs? Eigentlich muss jeder was blechen, das Boot kostet ja Miete, aber ausnahmsweise würde ich dich einladen.« Sie lächelte Svenja an und fuhr sich durch das
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