Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
und gehen brav lateinische Wörter deklinieren. Und dann treffen wir uns abends zum Stocherkahnfahren. Ist das nicht verrückt? Auf meinem Dach sitzt ein gestörtes Kind, im Wald liegt eine Leiche – nein, sie liegt ja jetzt in der Rechtsmedizin –, und ich gehe Stocherkahn fahren.«
»Na ja«, sagte Friedel vorsichtig, »es nützt weder dem Kind noch der Leiche, wenn du
nicht
Stocherkahn fahren gehst.«
Sie schlief wirklich in Termi.
Friedel schlief neben ihr.
Ein schönes Bild für die kleinen Mädchen und die Polohemdenjungs, die sich interessiert nach den beiden in der letzten Bank umdrehten:
poses to avoid if you want to be a good student.
Als sie nach Hause kam, war Nashville nicht da. Auch nicht auf dem Dach. Sie hatte nicht die Kraft, ihn zu suchen. Sie schlief auf ihrem Bett weiter.
Und abends um zwanzig nach fünf stand sie am Bootsverleih neben der Neckarbrücke und war ein Mal in ihrem Leben zu pünktlich. Der Neckar glitzerte silbern in der Sonne, und die Luft sirrte vom sommerlichen Freitagnachmittagsübermut. Touristen und Studenten drängten sich in Scharen über die Brücke, während am anderen Ufer die Biergartenterrasse des
Neckarmüller
voll träger Neugier ins Wasser hinaushing. Die Stocherkähne lagen wie lange spitze Holzfische im Wasser, manche erinnerten Svenja an Gondeln. Gleich würde jemand anfangen zu singen.
Jemand fing an zu singen: ein ganzer Kahn voller Verbindungsstudenten, Farben tragend und schon um die Uhrzeit nicht mehr nüchtern. Svenja verstand nicht, was sie sangen. Irgendein Volkslied. Bei dem Gedanken an Alkohol (und an Volkslieder) wurde ihr wieder leicht schlecht. Bei dem Gedanken an einen schwankenden Kahn auch.
»Hey, Svenja«, sagte Katleen. »Die anderen sind gleich da.«
»Ich … ich glaube, ich fahre nicht mit«, murmelte Svenja.
»Natürlich fährst du mit.« Katleen legte ihr eine Hand auf den Arm, eine kräftige und zugleich erstaunlich leichte Hand. »Komm. Bringt dich auf andere Gedanken.«
»Andere als welche?«, fragte Svenja misstrauisch. Katleen wusste nichts von der Waldblätternacht, durch die sie geflüchtet war. Sie hatte nur zwei Menschen davon erzählt: Gunnar und Friedel.
»Andere als die, die du jetzt hast«, sagte Katleen. »Es sieht nicht aus, als wären sie angenehm.«
Eine halbe Stunde später saß Svenja in einem der Boote, das dicht bepackt war mit Studenten der Kunst und der Kunstgeschichte, Studenten vor allem des Freitagabends. Sie fuhren unter der Brücke durch, vorbei an den Puppenhäusern zur Rechten, wo wieder eine Menge Leute auf der Mauer saßen: mitten hinein in eine Ansichtspostkarte, ins Gedränge anderer Boote. Die halbe Stadt schien in Stocherkähnen unterwegs zu sein. Die Stimmen neben Svenja lachten und schnatterten unbekümmert wie die Enten auf dem Fluss, sie kamen aus aller Herren und Damen Länder, Japan, Sachsen, Finnland – keiner aus der Gegend.
»Die Schwaben fahren ja am Freitag alle nach Hause«, sagte Friedel, »zum Wäschewaschen.«
»Du
bist
Schwabe.«
Friedel zuckte die Schultern. »Ich lasse meine Wäsche von meinen Großeltern waschen, denen mit dem schrägen Garten. Meine Großmutter setzt sich immer auf die Maschine und schreibt Tagebuch. Durch das Rütteln schreibt der Stift völlig eigene Sätze; die Bedeutung versteht sie oft erst nach Jahren.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Svenja.
»Ich auch nicht«, sagte Friedel.
Die rothaarige Grazie hatte eine Kiste Bier an Bord geschleppt, und Katleen reichte eine Plastikbox mit exotisch gefüllten Pfannkuchen herum. Svenja sah die sauberen Schnittkanten der gerollten Pfannkuchenstücke an und dachte an Nashville und an Thierrys Taschenmesser.
Mitten im Fluss lag eine Insel, die nur aus einer Allee alter Platanen bestand – einer Allee voller Boulespieler und Spaziergänger. Auf dem Grasstreifen an der Seite stand ein Grill neben dem anderen, überall wurde gepicknickt. Renoir:
Frühstück der Ruderer.
Sie befand sich in einem impressionistischen Bild. Aber keiner der Kunststudenten sagte das laut, vermutlich war es zu naheliegend.
»Nashville würde das gefallen«, sagte sie leise zu Friedel. »Mit dem Boot … hier so unter den Bäumen … Wir müssen das noch mal machen. Mit ihm.«
»Lasst uns ein Spiel spielen!«, rief die rothaarige Grazie. »Hier, jeder muss einen Zettel ziehen, da steht ein Tier drauf, das die anderen raten müssen. Aber der Trick ist …«
Der Trick war, im Allgemeinen, abzuschalten. Die Sonnenlichter
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