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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Körper am nächsten Morgen.
    Sein Rücken berührte die kalte Wand der Unterführung beim Bahnhof. Die Wand hatte ihm nicht geholfen.
    Das Messer war scharf gewesen, der Schnitt hatte beide Halsschlagadern durchtrennt.
    Da waren auch Schnittwunden an seinen Händen. Er hatte sich gewehrt.
    Das Blut war auf die Pappe gesickert, auf der der Körper lag, und hatte sie rot gefärbt.
    Es gab keine Spuren auf dem kahlen Beton.

9 Mauern
    Die Nachricht war in der ganzen Stadt verteilt, als Svenja an jenem Nachmittag von der Uni nach Hause ging. Ihr Fahrrad hatte seine Kette wieder verloren, sie schob es durch die Straßen, und zunächst wehten nur Fetzen von Gesprächen an ihr vorbei.
    »Er lag in der Unterführung. Beim Bahnhof.« – »Diese Frau draußen im Wald, war die nicht auch« – »das ist jetzt schon der Zweite« – »stell dir vor, morgens gehst du durch diese Unterführung zum Bahnhof und findest« – »nein danke«.
    Im Schaufenster eines Telekom-Ladens lief ein Fernseher. Von dort sah sein Gesicht sie an, aus den Lokalnachrichten heraus. Er lächelte auf dem Foto. Es war vergilbt, alt, eingescannt, aber er lächelte. Seine grauen und weißen Haarsträhnen waren damals noch nicht so lang gewesen.
    Der Zugfütterer.
    Der Zugfütterer war tot, sie begriff es erst nach und nach, der freundliche Alte mit seinen kryptischen Bemerkungen und seinen Plastiktüten und seinen Pfandflaschen. Von nun an würden die Züge vergeblich zum Geländer der blauen Brücke hochsehen; niemand stand mehr dort, um sie zu verabschieden.
    Was hatte der Zugfütterer gewusst?
    Er war auf die gleiche Art gestorben wie Sirja, die Löwin. Weniger verborgen als im Wald, entblößter fast. Er hatte nicht lange gelegen; das Blut auf der Pappe war noch nicht ganz trocken gewesen, als sie ihn gefunden hatten. In einer Unterführung beim Bahnhof findet man dich schnell, es gehen immer genug Leute hindurch. In einer Unterführung beim Bahnhof hört dich niemand, wenn du schreist. Es gehen nie genug Leute hindurch.
    Svenja ließ das Rad stehen und rannte. Sie musste Nashville finden.
    Sie waren allein gewesen und doch etwas wie eine Gruppe: Sirja, die Löwin, der Junge zwischen den Zeilen, die
Country-Roads
-Frau, der Zugfütterer. Sirja und der Zugfütterer waren tot. Sie dachte an den Präp-Kurs und an die Muskeln des Halses, die erst später drankämen, sie dachte den Satz:
Menschen zwischen den Zeilen sind nichts wert, die kann man benutzen, um ein Messer zu testen.
Es war ein schrecklicher Satz, es war nicht ihre Meinung, nur ein Satz; sie knüllte ihn zusammen und warf ihn weg.
    Vor der Tür im Holunder saß jemand. Es war nicht Nashville.
    Es war Katleen. Sie schälte Äpfel, mit kleinen, zielsicheren Bewegungen, ohne das Messer oder die Äpfel anzusehen. Sie sah Svenja entgegen.
    »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Ich komme wieder. Ich bin bei meinen Leuten.«
    »Wie?«
    Katleen lachte, ein wenig verächtlich. »Das soll ich dir sagen. Von
ihm
. Deinem Findelkind. Ich bin offenbar sein Notizblock.«
    »Ich dachte, er spricht nicht mit dir?«
    Katleen zuckte die Schultern. »Ich war gerade da, und er brauchte jemanden, der die Nachricht überbringt. Ihr kommt doch alle nur, wenn ihr was braucht.«
    »Das ist nicht wahr, ich …«, begann Svenja und brach ab. Katleen hatte recht.
    Sie nahm die Schüssel mit den geschälten Äpfeln und stand auf. »Ich habe die Nachricht abgeliefert«, meinte sie. »Jetzt kann ich ja gehen. Es ist abgekühlt.« Sie sah zum Himmel. »Gibt noch mehr Regen.«
    »Katleen«, sagte Svenja unsicher. Sie hatte das Gefühl, sie müsste irgendetwas mit Katleen zusammen tun, als eine Art Dankeschön für die Botschaft. Für die Woche, in der sie bei ihr gewohnt hatte. Für das Fahrrad. Für alles. »Was … was machst du denn jetzt?«
    »Apfelkuchen«, antwortete Katleen, drehte sich um und ging.
    »Warte«, sagte Svenja lahm. Doch sie war froh, dass Katleen ging. Sie hatte andere Dinge zu tun.
    Sie hatte ein Kind heimzuholen.
    Ich bin bei meinen Leuten.
     
    »Mama?«
    »Svenja! Alles in Ordnung?«
    »Ja, ich wollte nur … Ich wollte mich mal melden … Du hast doch gesagt, du könntest mich mal besuchen kommen.«
    »Ja?« Svenjas Mutter klang sehr vorsichtig.
    »Könntest du jetzt kommen? Jetzt gleich?«
    »Nicht in dieser Minute. Noch arbeite ich. Aber ich kann nachher ein paar Sachen packen und einen Zug raussuchen … Svenja? Heulst du?«
    »Quatsch«, sagte Svenja und zog die Nase hoch. »Es ist

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