Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
sie im Schnee, tot.
In dieser Nacht träumte sie wieder einen abstrusen Traum. Sie stand im Flur des Studentenwohnheims, einem Flur mit tausend Türen, und sah am Ende, hinter einer halb offenen Tür, einen gefliesten Raum: die Gemeinschaftsküche der Etage. An der Türklinke zu ihrer Rechten hing ein Schild:
KEHRWOCHE
.
Sie ging den Flur hinunter, aber er wurde immer länger. In die Türen waren vergitterte Klappen eingelassen wie in einem Gefängnis. Mitten im Korridor fand sie einen Haufen Plastiktüten. Es waren die Plastiktüten des Zugfütterers, doch jetzt waren sie vollgestopft mit Svenjas Kleidern. Aus einer Tüte ragte das Andersen-Buch. Sie nahm die Tüten und ging weiter, langsamer, und aus einer der Tüten fiel etwas heraus. Der Boden war brüchig. Nein, der Boden war aufgeschlitzt. Drei Messer waren herausgefallen. Nashvilles Sammlung.
Svenja hob sie auf und setzte ihren Weg fort, ohne die Tüten, nur mit den Messern in der Hand. Sie spürte, dass jemand sie beobachtete, da waren Augen hinter den Gitterklappen in den Türen. In der Küche, dachte sie, war Nashville, er wartete dort – sie musste diese Küche erreichen.
Jemand atmete hinter ihr, aber als sie sich umdrehte, war niemand da.
Es wurde dunkler, es wurde Nacht. Wie konnte es drinnen Nacht werden?
Und dann betrat sie den gefliesten Raum, endlich.
Doch es war keine Gemeinschaftsküche. Es war der Präp-Saal.
Die Leichen auf den schmalen Metalltischen waren abgedeckt wie stets. Nur bei der Leiche, an der die Prüfung stattfinden sollte, war das Tuch zurückgezogen worden. Der Anatomieprof und Nils standen dort und blickten Svenja entgegen. Sie sah an sich herab, um festzustellen, ob ihr Kittel sauber war. Aber sie trug keinen Kittel. Sie war nackt.
»Bitte«, sagte der Prof und machte eine einladende Handbewegung. »Die Nerven am Unterschenkel, Frau Wedekind.«
Svenja trat an den Tisch. Die Präp-Leiche sah anders aus als die, an der sie bisher gearbeitet hatte. Das Fleisch war rosig, nicht alt und braun. Jetzt sah sie, dass am Fuß der Nachbarleiche ein kleines Schild hing – wie in der Pathologie. Sie kannte solche Bilder nur aus Filmen.
SIRJA ,
DIE LÖWIN
, las Svenja. An der übernächsten Leiche gab es ebenfalls ein Schild:
DER ZUGFÜTTERER
.
Aber wessen Leiche war es, vor der sie jetzt stand? Das Schild an ihrem Fuß hing verkehrt herum, sie sah nur die leere Rückseite.
»Frau Wedekind?«, fragte der Prof. »Würden Sie beginnen?«
Nils lächelte ihr aufmunternd zu. Er trug die Farben seiner Verbindung über dem weißen Präp-Kittel. Auf seiner linken Wange prangte ein frischer Schmiss vom Fechten.
»Das sind alles Penner, oder?«, fragte Svenja. »Und sie sind alle an einem Schnitt durch die Kehle gestorben. Wieso …?«
»Das fragen Sie mich?«, sagte der Prof. »
Sie
halten doch die Messer in der Hand.«
Svenja starrte die drei Messer an und ließ sie fallen, als würden sie plötzlich glühen.
»Wer ist das?«, fragte sie und zeigte auf die Leiche. »Sagen Sie mir, wessen Leiche das ist! Es gibt also noch eine dritte … Nein, es gibt insgesamt fünf in diesem Raum! Wo ist Nashville? Sie, Sie wissen es doch!« Sie packte den Prof an seinem weißen Kittelkragen – und wachte auf.
Unter dem Bett hörte sie Nashvilles Atemzüge. Alles war in Ordnung.
Sie ging in die Küche, trank einen Schluck Wasser und trat ans Fenster. Draußen, im papierweißen Mondlicht, standen die Steinbänke und sahen verlassen zu Svenja empor. Sie war unendlich müde, aber sie hatte Angst davor, wieder einzuschlafen; Angst davor, weiterzuträumen. Schließlich zog sie sich leise an und verließ das Haus.
Die Dunkelheit roch nach Geißblatt und alten Steinen. Sie wusste nicht, wohin sie ging. Die Atemzüge der schlafenden Stadt trugen sie, und irgendwann merkte sie, dass sie in schwarzes Wasser sah. Die Mauer. Natürlich, sie war bei der Mauer gelandet, von der sie nach dem Begräbnis des Zugfütterers gesprungen waren, vor hundert Jahren. Sie legte ihre Arme darauf und starrte ins Wasser, das vorbeifloss wie unausgesprochene Gedanken.
Und dann spürte sie die Anwesenheit einer anderen Person. Sie sah sich um. Ja, da war noch jemand an die Mauer getreten, ein Stück rechts von ihr. Noch jemand war hergekommen, um seine Gedanken vorüberfließen zu sehen.
Zwei Sekunden lang hatte sie Angst.
Zwei Sekunden lang war alles möglich.
Die andere Person war der Mörder. Die andere Person war ihr gefolgt und glaubte, dass sie Dinge wusste,
Weitere Kostenlose Bücher