Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
die sie gar nicht wusste. Die andere Person war eine völlig unbekannte andere Person, die dennoch nichts Freundliches vorhatte.
Die andere Person drehte sich ein wenig, sodass das Mondlicht auf ihr Gesicht fiel.
»Holzen«, wisperte Svenja. »Gunnar Holzen. Träume ich immer noch? Wo ist der Zusammenhang?«
Sie ging zwei Schritte auf ihn zu, und er sah auf. Auch er wirkte, als träumte er.
»Svenja?«, fragte er. »Svenja, die Studentin mit dem zugelaufenen Kind?«
»Ja«, sagte Svenja und wischte sich die weiße Mondfarbe aus den Haaren.
»Was machst du hier?«
»Ich konnte nicht schlafen«, sagte sie. »Ich habe geträumt, und …« Sie brach ab, zuckte mit den Schultern und merkte, dass sie plötzlich lächelte. »Ich wollte ein bisschen allein sein, um nachzudenken. Und du?«
»Ich wohne da«, sagte er und zeigte mit dem Daumen hinter sich in eine vage Richtung. »Ich schätze, ich wollte auch ein wenig allein sein.« Er lachte leise. »Aber jetzt sind wir beide nicht mehr allein. Der Plan ist also nicht aufgegangen.«
»Hm, nein«, sagte Svenja und lehnte sich neben ihn an die Mauer.
Eine Weile standen sie nur da und betrachteten gemeinsam den Neckar, der noch immer nichts tat, als zu fließen, gemächlich, kaum merklich, beinahe heimlich. Svenja fragte sich, ob es Gunnar unangenehm war, dass sie neben ihm an der Mauer lehnte, aber es schien nicht so.
»Mist«, sagte er nach einer Weile leise. »Das Leben ist großer Mist.«
Sie sah ihn von der Seite an. Er wirkte nüchtern. Natürlich war er nüchtern. Es war Gunnar.
»Das unterschreibe ich so«, sagte sie. »Ich muss aus meiner Wohnung raus. Sie wird restauriert. Und hinterher teurer. Ich habe den Brief zu lange liegen lassen, ungelesen … Ich kann nicht in ein Studentenheim ziehen, wegen Nashville. Die setzen uns da sofort wieder vor die Tür, weil er etwas Komisches anstellt. Und der Auszugstermin ist übermorgen.«
»Autsch«, sagte Gunnar.
»Ich bräuchte einen Job … irgendwas … damit wir wenigstens wieder einziehen können, wenn sie das Haus restauriert haben. Ich … irgendwie hänge ich an dem Haus.«
»Hm«, sagte Gunnar. Ein drittes Schweigen hüllte sie ein.
»Und … bei dir?«, fragte sie schließlich.
Gunnar holte Luft, wie um etwas zu sagen, sagte es nicht und atmete wieder aus. Dann sagte er es doch. »Heirate nie«, sagte er. »Versprich mir das.«
»Schon versprochen«, sagte Svenja. Dafür, dass sie sich überhaupt nicht kannten, fand sie diesen Ratschlag ziemlich persönlich. Vielleicht war er doch betrunken.
»Ideal«, sagte er. »Ich habe immer alles getan, um das Ideal zu sein, das verdammte Ideal. Der ideale Student. Der ideale Verlobte. Der ideale Schwiegersohn. Es ist harte Arbeit, ein Ideal zu sein. Wenn alle hart arbeiten würden, wäre die Welt näher am Ideal.«
»Und?«
»Und jetzt habe ich einen Schwiegervater, der etwas anderes will. Er will das Ideal in einer lockeren Ausführung. Aber wie willst du das machen? Locker-flockig immer da sein, mitfeiern bis in die Nacht und trotzdem arbeiten? Die beschissene Doktorarbeit …«
»Setzt du dich deshalb ins Café?«
»Ja.« Er lachte, unfroh. »Ja, natürlich. Dann sehe ich aus, als wäre ich ein völlig entspannter Mensch. Von Weitem. Und gleichzeitig prügle ich die Doktorarbeit voran, die nie
vorankommt
, weil ich zu wenig Zeit dafür habe. Denn natürlich will er einen Schwiegersohn mit Doktortitel, er hat selber einen Doktortitel … Aber er hat nie Geld verdienen müssen im Studium. Das lässt dir mehr Zeit, dann kannst du die Doktorarbeit nebenher machen. Geld war immer da in dieser Familie. Eine alte Familie. Und ich? Ich bin ein Niemand. Ich fahre Rettung, am Wochenende, um was dazuzuverdienen. Sie hat einen ziemlich hohen Lebensstandard, die Tochter meines Schwiegervaters. Ich muss arbeiten, und er lässt mich nicht.«
Seine Worte waren auf die Pflastersteine zu Füßen der Mauer gefallen wie Blätter und bedeckten die Steine jetzt ganz, es waren eine Menge Worte gewesen.
»Du weißt schon, wem du das gerade alles erzählst, ja?«, fragte Svenja leise. »Ich bin nur irgendeine Studentin, die du gar nicht wirklich kennst. Nicht dass du es hinterher bereust …«
Rede weiter. Sag mir, dass ich nicht nur irgendeine Studentin bin.
»Du bist die Studentin, die ich Anatomie abgefragt habe«, sagte Gunnar, irritiert. »Natürlich weiß ich das.«
»Ja. Ich bin die Studentin, die morgen schon wieder ein Testat hat. Untere Extremität
Weitere Kostenlose Bücher