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Nasses Grab

Nasses Grab

Titel: Nasses Grab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helena Reich
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ihrer Tür und schloss ab. Sie lief im Dunkeln die Treppe hinunter und rannte auf dem Treppenabsatz fast einen Mann um, der gerade heraufkam.
    »Oh, entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht …«
    Sie blickte zu dem Mann im dunklen Anzug auf, der vor ihr stand.
    »So sieht man sich wieder«, sagte er, grinste und ging an ihr vorbei.
    Diesmal stand Larissa wie vom Donner gerührt da. Das also war ihr Nachbar, dem sie bisher hier im Haus noch nie begegnet war.
     
    Alena Freeman legte langsam den Hörer auf und blickte aus ihrem Bürofenster im Gebäude von Radio Free Europe auf die Besucher, die das Nationalmuseum ansteuerten. Was Larissa Khek ihr eben am Telefon erzählt hatte, klang unglaublich. Offenbar war die Leiche aus der Metro so gut wie identifiziert. Natürlich noch nicht offiziell, aber die Hinweise legten den Schluss doch nahe. Die Ahnung, welche an jenem Morgen im Ráj, als sie sich mit Larissa zum Frühstück verabredet hatte, in ihr aufgestiegen war, schien sich zu bewahrheiten. Nach allem, was Larissa gerade gesagt hatte, war jedenfalls jedes Wort des anonymen Anrufers wahr gewesen. Wer, zum Teufel, war der Kerl?
    Sie betrachtete nachdenklich den oberen Teil des Wenzelsplatzes vor dem Nationalmuseum. Der Verkehr strömte in gewohnter Stärke über die Magistrale, die vierspurige Stadtautobahn, unter ihrem Fenster vorbei, und Touristen zogen in kleinen und größeren Gruppen von den Hotels in den Weinbergen hinunter Richtung Wenzelsplatz und Altstadt.
    Alena dachte an einen anderen strahlenden Tag. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte sie auf der Aussichtsplattform des Empire State Building gestanden und gewartet. Den ganzen Tag hatte sie dort verbracht, bis sie schließlich mit dem letzten Aufzug hinuntergefahren war. Glücklich über ihr neues Leben, traurig, dass ihre Verabredung geplatzt war. Albern, sich ausgerechnet dort treffen zu wollen. Auch sie war offensichtlich nicht vor Sentimentalitäten gefeit. Danach hatte sie, wie abgesprochen, täglich die privaten Anzeigen in der New York Times durchgesehen, doch sie hatte nichts gefunden. Man konnte sich eben auf nichts und vor allem auf niemanden verlassen. Sie hatte nach ihrer Ankunft in der Stadt bald ein billiges Zimmer und eine Stelle als Kellnerin gefunden. Eine ihrer neuen Kolleginnen war ebenfalls Tschechin, die schon seit bald zehn Jahren in New York lebte. Sie lud Alena eines Tages ein, doch zum nächsten Treffen der tschechischen Laientheatergruppe zu kommen. Alena hatte zunächst abgelehnt, sie wollte nichts mit Exilantenkreisen zu tun haben, aber schließlich hatte sie sich überreden lassen.
    Die Gruppe traf sich in einem kleinen Restaurant in Greenwich Village. Als Alena dort ankam, saßen alle um einen großen Tisch, und der neueste Klatsch aus der alten Heimat machte die Runde. Alenas Bekannte winkte sie zu sich, und sie nahm neben ihr Platz. Es war eine merkwürdig zusammengewürfelte Runde von Menschen fast jeden Alters, die zu Hause in der Tschechoslowakei wohl kaum jemals zusammen an einem Tisch gesessen hätten. Aber, dachte Alena amüsiert, die Fremde macht die unwahrscheinlichsten Leute zu Freunden. Sie hörte nur mit halbem Ohr auf das Gespräch, während sie die Menschen betrachtete, die wie sie ihre Heimat für das Versprechen eines freien Lebens verlassen hatten. Sie fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war zu kommen. Sie wollte niemanden treffen, den sie von früher kannte. Aber soweit sie das sagen konnte, befand sich unter den Anwesenden niemand, den sie auch nur vom Sehen kannte. Gut. Nun, vielleicht würde es ein angenehmer Abend werden. Es wurde jedenfalls viel gelacht und durcheinandergeschwatzt.
    Alena hatte sich, wie die meisten anderen, ein Bier bestellt. Sie trank einen Schluck und verzog das Gesicht. Was für ein fades Zeug. Vieles an Amerika erschien ihr besser als an ihrer alten Heimat, doch ob sie sich je an dieses wässrige Etwas gewöhnen würde, das man hierzulande Bier nannte, bezweifelte sie. Nahezu ungenießbar, wenn man mit echtem Bier aufgewachsen war. Sei’s drum, dachte sie, dafür bin ich frei. Sie lächelte. Alles hatte seinen Preis – und wenn der Preis für dieses neue Leben ungenießbares Bier war, nun, dann würde sie in Zukunft eben auf Wein umsteigen.
    Irgendjemand erzählte etwas von einem Unfall. Sie hatte nicht recht zugehört, war ganz in ihre eigenen Gedanken versunken gewesen.
    »Ach, die arme Seele«, hörte sie eine ältere Frau sagen.
    »Um wen geht es?«, fragte Alena ihre

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