Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
war klar, daß Omsk alles andere tun würde, nur nicht zahlen. Im Gegenteil, man würde in Omsk sehr munter werden und fragen: »Wie, Genossen, ist es möglich, daß es mitten in der einsamen Taiga, wo die Tränen der Bäume durch die Rinde tropfen, eine Kirche gibt, deren Dach wegfliegen kann? Uns fehlen die Mittel für ein Waisenhaus, aber die in Satowka haben eine Kirche! Und Geld wollen sie auch noch! Da muß man etwas unternehmen …«
Tigran hatte genug von den Besuchen aus Batkit oder gar Mutorej. Sie endeten immer mit Streit, marxistischen Dialogen und Drohungen, alle Priester müßten abgeschafft werden. War das ein Kirchendach wert? Wenn Beamte aus Omsk kommen würden, so konnte das der Untergang vom Reiche Gottes an der Steinigen Tunguska werden …
»Ich werde über die Angelegenheit nachdenken, mein Sohn«, sagte Tigran deshalb gedehnt. »In drei Wochen kommt der Herbstregen. Bis dahin muß das Dach in Ordnung sein, so oder so.« Er betrachtete Tassburg mit gerunzelter Stirn. »Sie sehen erbärmlich aus. Mein Gott, warum wollen Sie unbedingt in diesem Haus hier sterben?«
»Mir gefällt es! Ich glaube, ich habe zu der Gräfin Albina einen guten Kontakt. Sie kommt jede Nacht, und hatte das letztemal schon kein Messer mehr in der Hand!«
»Sie ist jede Nacht gekommen?« schrie Petrow und rollte entsetzt mit seinen schiefen Augen.
»Jede Nacht. Sitzt an meinem Bett und lächelt mich an …«
»Sie lächelt! Und Kassugai schlitzt sie den Hals auf? Welche Frau!«
»Der Ansicht bin ich auch«, sagte Tassburg ernst. »Welche Frau! Ich habe noch nie eine solche Schönheit gesehen!«
»Vom Satan geschminkt!«
»Oder von Gott gesegnet! Wissen Sie das so genau, Väterchen?« Tassburg hielt sich in einem vorgeblichen Schwächeanfall am Türrahmen fest. »Ich muß mich hinlegen. Meine Beine zittern. Leben Sie wohl …«
»Ich bete für Sie, mein Sohn!«
»Ich danke Ihnen. Es beruhigt mich.«
Tassburg schlug die Haustür zu. Tigran sah Petrow an und seufzte.
»Omsk!« sagte er böse. »Die in Omsk sollen das Kirchendach bezahlen! Wie stehen wir nun da? Allein müssen wir die ganzen Kosten tragen. Oh, ich könnte diesen Gasisulin erwürgen! Aber wir brauchen ihn noch. Lange wird es der Genosse Ingenieur nicht mehr machen …«
Natalia lag wieder auf dem Bett, als Michail zurückkam. Die Pistole lag neben ihr auf der Decke. Sie lächelte ihn an und legte den Arm um seine Hüfte, als er sich neben sie auf die Bettkante setzte.
»Ich habe alles gehört, Mischa«, sagte sie mit kindlich-sanfter Stimme. »Aber wie lange können wir das noch spielen?«
»Solange wir uns lieben …«
»Habe ich gesagt, daß ich dich liebe?« Ihre Augen wurden groß. »Wann habe ich das gesagt?«
»Du hast gesagt – wie wunderbar, daß es dich gibt!«
»Kommt darin das Wort Liebe vor?«
»Es gibt Worte, die voller Liebe sind, auch wenn das Wort nicht genannt wird. Man sieht sich an, Natalia, und das erste ›Du‹ ist schon mehr als das Wort Liebe. Wie wunderbar, daß es dich gibt – das ist ein geöffneter Himmel, Natalia!«
»Du redest wie ein Dichter!« Sie lachte wieder leise und kam näher an ihn heran. »Wir können hier doch nicht ewig bleiben! Mischa, du mußt weiter – ich muß weiter …«
»Wir gehen nur noch zusammen, Natalia.«
»Das sagst du immer und weißt doch, daß es eine Lüge ist.«
»In drei Wochen käme der große Herbstregen. In diesem Jahr aber wird es nach den mir vorliegenden meteorologischen Voraussagen anders sein: Wir werden einen schnellen Wintereinbruch bekommen, ohne Regen. Eines Morgens werden wir aufwachen und eingeschneit sein!«
»Und darauf wartest du?«
»Ich starre jeden Tag in den Himmel und rufe ihm zu: Werde grau, verhänge dich, weg, du Sonne … Laß es schneien und frieren!«
»Und dann?« Sie wehrte seine Hand ab, mit der er sie an sich ziehen wollte, und schüttelte den Kopf. Die Angst eines getriebenen Tieres lag wieder in ihrem Blick. Ihre Augen glänzten unnatürlich. Das Nervenfieber, in Stößen über sie herfallend, zerstörte wieder ihr klares Denken.
Tassburg erkannte es sofort, beugte sich über sie und drückte ihren zitternden Körper an sich.
»Ich habe ihn getötet …«, flüsterte Natalia. »In den Hals gestochen! Ich habe Kassugai getötet, Mischa, das Blut spritzte …«
»Es gibt keinen Kassugai mehr!« sagte er eindringlich und hielt sie fest an sich gepreßt. »Es hat nie – nie – einen Kassugai gegeben! Es gibt nur mich! Nur noch
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