Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
heiser.
»Dann sind es auch Kassugais Leute. Sie hassen die Kirche. Und wenn sie die Toten dort gefunden haben …«
»Sie werden es schwer haben, zu uns ins Haus zu kommen!« Michail lief ins Zimmer zurück, holte aus einer Kiste Munition und Magazine, warf Natalia eine Pistole zu und zeigte auf das Schlafzimmerfenster.
»Wenn sie kommen, schieß von dort! Ich verschanze mich hinter dem Wohnzimmerfenster. Kannst du überhaupt schießen?«
»Mit einem Jagdgewehr. Ich habe noch nie eine Pistole in der Hand gehabt.« Sie kniete noch immer vor dem Bett, die Waffe in der Hand, und starrte Tassburg aus übergroßen Augen an. Er kam zu ihr, erklärte ihr kurz, wie der Mechanismus der Pistole funktionierte, aber er merkte, daß sie es nicht begriff.
»Ziele und drücke einfach ab!« sagte er da. »Sie lädt immer wieder automatisch durch, bis das Magazin leer ist.«
»Und wenn es leer ist?«
»Dann komme ich und schiebe ein neues Magazin in den Griff.«
Sie nickte, betrachtete die Pistole und steckte den Zeigefinger in den Abzugshahn.
Das Metall war kalt und schwer. Natalia starrte auf das kleine Loch im Lauf und dachte, daß sie jetzt nur den Finger zu krümmen brauchte, und der Tod, der große Erlöser von Angst und Qual, würde als Feuerstrahl durch ihren Körper zucken und alles auslöschen.
»Dreh die Pistole um!« rief Tassburg aus dem Nebenzimmer. Er stand am Fenster, hatte die Explosionswolken beobachtet und jetzt zufällig zur Seite geblickt.
»Wie leicht das Sterben ist …«, sagte Natalia versonnen. »Merkwürdig, Michail, ich habe plötzlich gar keine Angst mehr.«
Sie stand auf, ging etwas unsicher zum Fenster und stellte sich seitlich davon an die Wand. Sie war jetzt ganz ruhig, auch das Zittern hatte aufgehört.
Vom Fenster aus konnte Natalia Anastasias Garten überblicken und jeden sehen, der von der Rückseite an das Haus heranwollte. Tassburg kontrollierte den Eingang und die Straße. Er hörte, wie die Feuerwehr von Satowka heranrasselte. Ein uralter Spritzenwagen mit einer Handpumpe war es, von sechs kräftigen Bauern gezogen.
Vor ungefähr zwanzig Jahren hatte der Pope Tigran diese Pumpe ins Dorf gebracht, als Geschenk der Kirchenverwaltung von Mutorej. Man ließ daraufhin die geistlichen Herren hochleben und sang begeistert einen Choral.
Was man nicht wußte, war, daß Tigran die alte Spritze auf einem Müllhaufen entdeckt hatte und sie vor der Vernichtung rettete. Ein findiger Schlosser, der dafür heimlich dreimal gesegnet wurde – heimlich deshalb, weil er ein bekannter Kommunist war und im Stadtsowjet von Mutorej saß –, bastelte mehrere Tage an der Pumpe herum, entrostete sie, schmierte sie mit kältebeständigem Fett und führte dann stolz dem Popen vor, wie man mit dem uralten Ding Feuer löschte.
In Satowka taufte man den Apparat auf den stolzen Namen ›Fortschritt‹. Leider trat er bisher nur zweimal in Tätigkeit, einmal bei einer Heuselbstentzündung des Bauern Projkop, das zweitemal, weil es bei der Witwe Larissa im Schornstein brannte.
Bei beiden Einsätzen tat die Feuerspritze ›Fortschritt‹ ihr Bestes, aber retten konnte sie weder die Scheune noch das Haus der Larissa. Bei dem Heu platzte der morsche Schlauch, weil zwischen dem gepumpten Wasserdruck und dem porösen Gummi des Schlauches eine physikalische Diskrepanz herrschte, bei Larissas Kamin dagegen verjagten die schwarzen Dämpfe des nie gereinigten Schornsteins die tapferen Feuerwehrmänner, denn Rauchmasken waren nicht vorhanden.
Daß ›Fortschritt‹ nun anrückte, deutete darauf hin, daß kein Terrortrupp Kassugais über das Dorf hergefallen, sondern irgendein anderes Unglück passiert war. Außerdem sah Tassburg kurz nach der letzten Explosion Jefim Aronowitsch über die Straße springen und etwas durch die Gegend schreien.
»Es sind nicht Kassugais Leute, Natalia!« rief Michail in das andere Zimmer hinüber. »Vielleicht hat es irgendwo eine Explosion gegeben. Die Feuerwehr rückt an!«
Aber er und Natalia blieben vorsichtig, verharrten noch eine Weile an ihren Fenstern und traten erst in die Zimmer zurück, als sie Anastasia kommen sahen, gefolgt von Petrow. Zuletzt erschien noch der Pope Tigran, in feierlichem Ornat, in dem er soeben das Dreifachbegräbnis ohne weitere Zwischenfälle vorgenommen hatte.
Tassburg lehnte sein Schnellfeuergewehr neben die Tür und trat aus dem Haus. Hoch über der Kirche, mit dem Wind wegziehend, hingen noch immer dunkle Erd- und Staubwolken.
»Was ist
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