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Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Tigran Rassulowitsch war wieder erschienen. Er sah imponierend aus in seinem Feiertagsgewand. Die runde Mütze verlängerte noch seine Größe und die reichbestickte Risa verbreiterte seine ohnehin schon gewaltige Figur. Natalia, die bisher nur auf Bildern einen solch geschmückten Priester gesehen hatte, preßte den Strauch aus Papierrosen gegen ihre Brust.
    »Gott sei mit euch!« sagte Tigran feierlich. »Doktor, wo ist das Wasser?«
    »Kalt oder heiß?«
    »Wasser!« brüllte Tigran. »Oh, was leide ich! Angewärmt!«
    Tassburg ging zum Herd, goß etwas gewärmtes Wasser in einen zerbeulten Aluminiumtopf und hielt ihn dem Popen hin.
    »Genügt das?«
    »Damit taufe ich eine ganze Kleinstadt!« Tigran Rassulowitsch faltete die Hände und blickte gegen die dicke Balkendecke. »Herr, segne das Kind, das jetzt vor dich tritt und aus freiem Willen …«
    »Er hat wirklich die Stirn, Gott zu belügen!« murmelte Dr. Plachunin dazwischen. »Aus freiem Willen …«
    »Schluß! Sparen wir uns alle Worte!« Tigran tauchte die Hände in den Topf mit Wasser. »Sie sind und bleiben eine Beleidigung Gottes, Doktor, und es hat keinen Sinn, in Ihrer Gegenwart ergriffen zu sein. Natalia, beuge dein Haupt. Ich taufe dich auf den Namen … Wie heißt du eigentlich weiter?«
    »Natalia Nikolajewna.« Sie beugte sich über den Topf und der Pope sprengte Wasser über ihr aufgestecktes Haar. Sie zuckte zusammen, aber Tassburg hielt sie von hinten umfaßt und streichelte ihre Schultern und den Rücken. Da ließ sie es geschehen, und das Wasser rann über ihre Wangen in den Topf zurück.
    »… taufe ich dich auf den Namen Natalia Nikolajewna mit dem Ausspruch Gottes: Kommet her zu mir, ihr Hungernden und Frierenden, ich will euch erquicken …«
    »Das ist billiger als Braten und Wodka!« rief Dr. Plachunin giftig dazwischen. »Ein Glück, daß dafür auch gesorgt ist! Ist die Taufe nun vorbei?«
    »Ja!« brüllte Tigran ingrimmig zurück und küßte dann Natalia auf beide Wangen. »Mein Töchterchen, Männer wie dieser Doktor werden nie die ewige Seligkeit erfahren. Bleib so, wie du bist …«
    »Und jetzt die Trauung!« sagte Dr. Plachunin ungerührt. »Aber ich verlange eine richtige Trauung. Ein volles Programm! Nicht so ein Schnellverfahren wie bei der Taufe.«
    »Dann verlassen Sie das Haus, Ostap Germanowitsch!«
    »Ich bin der einzige Trauzeuge! Das geht nicht.«
    »Können Sie singen?«
    »Singen? Ich?«
    »Bei einem richtigen Traugottesdienst wird gesungen! Also – singen wir!« Tigran, ein goldbestickter Riese in seinem Gewand, blickte auf den Zwerg Dr. Plachunin hinunter wie aus den Wolken. »Welche Lieder können Sie noch aus Ihrer Kinderzeit?«
    »Wenn Gott uns von der Erde nimmt …«
    »Das ist ein Totenlied!« brüllte Tigran. »Die Hymne der Ärzte!«
    »Das zahle ich Ihnen heim, Tigran Rassulowitsch!« sagte Dr. Plachunin, plötzlich ganz milde. »Aber gut, ich kann noch: Gott nimm unsere Hände an …«
    »Das geht. Aber nur die erste Strophe! Die zweite handelt wieder vom Tod. Ostap Germanowitsch, können Sie nur Lieder für Beerdigungen? Wahrhaftig, Sie sind der geborene Arzt …«
    »Morgen bekommen Sie ein Klistier!« sagte der Doktor. »Ich schwöre es Ihnen! Ich werde im Dorf genügend Gläubige finden, die Sie mit Wonne dabei festhalten!«
    »Fangen wir an!« Tigran betrachtete die Braut. Die Taufe hatte ihr Haar naß gemacht, aber die Frisur war nicht sonderlich zerstört. Nur eine Strähne hatte sich aus dem roten Nylonband gelockert und fiel ihr in die Stirn. Es sah bezaubernd aus.
    »Dr. Plachunin, gehen Sie bitte in das Nebenzimmer und holen Sie die Hochzeitskronen. Ich beginne mit der Einleitung …«
    Und dann geschah etwas, was selbst Dr. Plachunin umzuwerfen schien. Der Pope holte tief Luft, sein Bart sträubte sich wieder, und ein donnernder Gesang, als sei ein Lautsprecher voll aufgedreht worden, entquoll seiner gewaltigen Brust.
    Der erste Choral!
    Dr. Plachunin starrte den singenden Riesen an und rannte dann ins Schlafzimmer, um die Kronen aus Messing zu holen. Er stellte sich dann damit hinter das Brautpaar, aber weil er so klein war, gelang es ihm nicht, wie es Vorschrift war, die Kronen über die Köpfe des Paars zu halten. Sie reichten nur bis in die Nacken, und der Pope sah Dr. Plachunin während seines Gesangs strafend an.
    »Nicht jeder kann ein Goliath sein!« brüllte Plachunin in das Lied hinein. Dann kletterte er auf einen Stuhl und stand jetzt hoch genug, um die Kronen über die Köpfe

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