Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
hatte er leise gesagt. »Alles, was du anfaßt, Natalia, blüht und wird zur Schönheit. Ich liebe dich …«
Wie gesagt, das war erst der Rock. Damit Natalia nicht ihre alte, zerfetzte Bluse anziehen mußte, hatte Tassburg sein bestes Hemd geopfert, rot-weiß gestreift, das sich Natalia enger genäht hatte. Sie hatte die Ärmel herausgetrennt und verkürzt oben wieder angenäht. So entstanden schöne Rüschen über den Schultern und man sah kaum noch, daß es ein Männerhemd gewesen war. Was nicht dazu paßte, waren die derben Stiefel, die Natalia getragen hatte. Sie trug sie jetzt nicht, sondern stand barfüßig im Zimmer, preßte den Papierblumenstrauß gegen die Brust und sah den riesigen Popen scheu, aber doch ein wenig kritisch an.
Sie war so schön, daß Tigran vergaß, wo er sich befand. Er starrte Natalia an, stumm und ergriffen, und erwachte erst aus der Verzauberung, als ihn Dr. Plachunin ins Gesäß stieß.
»Gott segne dich, Töchterchen!« sagte Tigran ernst und leise.
Dann wartete er … War es wirklich der böse Geist der Gräfin Albina, dann mußte sich jetzt das schöne Geschöpf in Nebel auflösen. Bei vom Teufel Besessenen dauerte es etwas länger, bis sich der satanische Geist entfernte. Es geschah meist erst dann, wenn der Besessene das Kreuz küßt. So wenigstens beschrieben es alte Folianten, in denen Priesterkollegen ihre Erfahrungen mit Geistern schriftlich niedergelegt hatten.
Der Pope Tigran wagte es. Da das Mädchen sich nicht in Luft auflöste, schritt er feierlich näher und hielt ihr das Kreuz entgegen. Natalia rührte sich nicht. Sie blickte nur fragend Tassburg an. Dr. Plachunin kam ihr zu Hilfe.
»Mit dem Kreuz kann sie nichts anfangen, Tigran Rassulowitsch!« sagte er. »Sie war Komsomolzin …«
»Vor hundertfünfzig Jahren gab es die schon?« stotterte Tigran. »So alt sind die Komsomolzen?«
»Er begreift noch immer nicht!« Dr. Plachunin kam um den Popen herum und zeigte auf Natalia. »Das ist Natalia Nikolajewna Miranski. Kein Geist! Ein Mädchen aus Mutorej. Lebendig wie Sie und ich und in Kürze sogar doppelt lebendig!«
»Doppelt?« wiederholte Tigran, dem es immer unheimlicher wurde.
»Sie bekommt ein Kind, zum Donnerwetter!« sagte Plachunin grob.
»Von wem?«
»Von mir!« sagte Tassburg. »Ist das nun klar?«
»Von Ihnen? Ich verstehe gar nichts mehr!« Der Pope ließ die Tasche aus Wachstuch fallen, das Kreuz glitt aus seiner Hand und hing nun lose an der Kette um den Hals des Geistlichen. Der Arzt hob die Tasche auf und stellte sie auf den Tisch von der uralten, für Ewigkeiten gezimmerten Eckbank, von der – wie wir uns erinnern – seinerzeit der gute Morosowski gefallen war und damit Anastasia zur Witwe gemacht hatte.
»Natalia wohnt seit über zwei Monaten in diesem Haus!« erklärte Tassburg. »Sie ist, noch bevor ich nach Satowka kam, eines Nachts in das leere Haus gekommen und hat sich hier versteckt. Sie mußte flüchten und war seit Wochen zu Fuß durch die Taiga geirrt …«
»Das Mädchen mit dem Kopfgeld!« stammelte Tigran. So allmählich begriff er alles. »Sie ist es …«
»Ja.«
»Mein neues Kirchendach und meine neue Glocke …«
»Wir sollten ihn zerhacken, Michail Sofronowitsch!« meinte Dr. Plachunin laut. »In diesem Haus fällt das nicht auf, da ist man an so etwas gewöhnt. Wenn man dann morgens den Popen mit zerbrochenen Gliedern vor der Tür des ›Leeren Hauses‹ findet, wird jeder sagen …«
»Und sie hat Kassugai erstochen?« fragte Tigran dumpf grollend.
»Ja!« Es war das erste Wort, das Natalia sagte. »Ich habe es getan. Es ging um mein Leben. Ich habe Ihren Gott nie kennengelernt, aber er ist ein schlechter Gott, wenn er verbietet, sich zu verteidigen.«
»Wer hat eigentlich Kassugais Begleiter umgebracht?« fragte Dr. Plachunin jetzt hinterhältig. »Im Dorf erzählt man, seine Schädeldecke wäre eingedrückt gewesen?«
»Des Menschen Wege bestimmt ein unerforschliches Schicksal!« sagte Tigran feierlich. »Warum also fragen? Wir hängen an himmlischen Fäden wie Marionettenpuppen!« Er sah Natalia mit gesträubtem Bart an. So zart, so jung und zerbrechlich, dachte er, und ein Messer kann sie handhaben wie ein Fleischer. Sticht einen Mann wie Kassugai ab wie nichts! Natürlich war es Notwehr; aber sagte Kassugai nicht, sie sei eine gesuchte Mörderin …
Tassburg schien zu ahnen, was Tigran durch den Kopf ging. Er stellte sich neben Natalia und legte den Arm um ihre Hüfte. Sie lächelte schwach, blieb aber
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