Natascha
Wolga gerissen. Ein großer, in einen Pelz gehüllter Mann war es, er knöpfte den Mantel auf, drückte den schmalen Körper Nataschas an sich, schlug den Pelz um sie und trug sie laufend weg vom Fluß ans Ufer. Dort warf er sie in ein altes Auto, wickelte sie vollends in das Fell, sprang hinter das Steuer und raste mit seinem klappernden Gefährt zurück nach Saratow, als jagten ihn die Teufel.
»Was ist denn?« fragte Natascha, als sie wieder erwachte und sich in einem weißbezogenen Bett fand. In einem kleinen Zimmer stand es, das kahl war bis auf zwei Bilder, die Lenin und Stalin zeigten. Auf einem Stuhl neben dem Bett saß ein Mann in einem offenen Pelz, die Lammfellmütze zwischen den Händen drehend. Er hatte einen schmalen Kopf mit blonden Haaren und blauen Augen. Wie Fedja und Ilja, dachte Natascha und schloß wieder die Augen. Aus irgendeiner Ecke hörte sie ein tiefes Brummen. Ach, Luka ist auch da, dachte sie weiter. Das ist gut.
»Sie ist aufgewacht«, sagte eine fremde, wohlklingende Stimme.
Ein schwerer Schritt dröhnte durch das Zimmer. Er war unregelmäßig, ein Tritt und dann ein Knall, als ramme man einen Eisenpfahl in die Erde. Luka kommt, dachte Natascha. Und was da so knallt, ist sein Gipsbein. Guter alter Idiot … bald hättest du allein auf der Welt gestanden.
»Täubchen …«, sagte Luka. Er wagte nicht, sie zu berühren. »Du bist wieder bei uns, Nataschka … Dieser Mensch da hat dich gerettet. Ich habe ihn vor Glück an meine Brust gedrückt …«
»Die Rippen hat er mir gequetscht, der Bär!« sagte der blonde fremde Mann. »Hätte ich nicht geschrien, läge ich jetzt sterbenskrank im nächsten Bett …«
»Er übertreibt, Täubchen …« Luka kratzte sich den Kopf. Natascha sah es als erstes, als sie die Augen wieder aufschlug. Luka hatte wieder einen wilden Stoppelwald im Gesicht; wie in den Sümpfen sah er wieder aus, schrecklich und unbegreiflich als weltliches Wesen.
»Wie … was …?« Natascha zog die Decke bis ans Kinn und rückte etwas nach oben, um sich mit dem Rücken an die Gitter des Bettes zu lehnen. »Wie lange bin ich denn schon hier?«
»Zwei Tage, Genossin.« Der blonde Mann erhob sich von seinem Stuhl und verbeugte sich korrekt. »Ich bin Luka Nikolajewitsch Sedow. Ingenieur an der staatlichen Forschungsstelle in Saratow.«
»Er heißt auch Luka!« Luka richtete sich hoch auf. »An mein Herz, Brüderchen … zwei Lukas haben Natascha das Leben gerettet!«
Sedow hob abwehrend beide Arme. »Es wäre mir angenehm, wenn Sie mich nicht noch einmal umarmten, Genosse.«
»Er will nicht mein Bruder sein!« brüllte Luka. Mit einem schnellen Griff erfaßte er Sedow am Kragen des Pelzes und hob ihn vom Boden ab, als sei er eine nasse Ratte. Sedow verhielt sich still. Er zappelte nicht, er wehrte sich nicht, er hielt nur die Luft an und ließ sich in seinem Pelz hängen.
»Luka!« sagte Natascha hart. Der Riese öffnete die Hand und Sedow plumpste auf den Stuhl zurück. »Er ist ein guter Kerl«, sagte Natascha zu ihm. »Ein wenig rauh … gewiß, aber wir haben's nicht anders gelernt.«
»Ich weiß.« Luka Nikolajewitsch Sedow wischte sich mit der Hand über die feuchte Stirn. Er hatte lange, schmale Künstlerhände, weiß und gepflegt. »Sie sind Natascha Astachowa, eine ›Heldin der Nation‹, Trägerin hoher Orden und bald ein neuer Stern am Opernhimmel. Ich habe das alles von Ulan Högönö erfahren.«
»Ulan … ist er da?« Natascha sah zu Luka hinüber . Er kaute an der Unterlippe und nickte.
»Wie ein Affe sieht er aus, Täubchen.«
»Er war hier, an meinem Bett?«
»Einen ganzen Tag hat er gewacht, der Mongole. Und die Ärzte hat er angeschrien. Ablösen lassen will er sie alle, wenn sie dich nicht retten würden, hat er gedroht. Da haben sie für dich einen neuen Arzt geholt, aus Kuibischew. Einen Professor. Ist ein gefährlicher Bursche, der Högönö …«
»Es freut mich, daß es Ihnen jetzt wieder so gutgeht, Genossin Astachowa. Wenn keine Lungenentzündung dazukommt, haben Sie noch einmal großes Glück gehabt. Sie waren so versunken beim Eislaufen, daß Sie meine Warnrufe nicht gehört haben. Direkt auf die Fischlöcher sind Sie zugelaufen. Ich war zu weit weg, um Sie zurückzureißen.«
»Ich danke Ihnen herzlich.« Natascha streckte ihre Hand hin. Sedow ergriff sie, und er tat etwas, was Natascha nur aus alten Büchern kannte und worüber man sich auf der Komsomolzenschule lustig gemacht hatte, weil es bourgeois gewesen sei und einfach
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