Natascha
unmöglich war's geworden. Neben seinem Stuhl lag Waleri Tumanow ohnmächtig auf den Dielen. Sein Mund stand offen in einem abgestorbenen Schrei.
»Wie zart er ist!« sagte Luka und schüttelte den Kopf. Dann bückte er sich, hob Tumanow von den Dielen auf und legte ihn auf den zerbrochenen Flügeldeckel.
Dann setzte er sich vor ihm auf den Stuhl und wartete darauf, was nun kommen mochte und wie es weiterging.
So traf ihn Natascha an, die – von Elena geholt – in das Zimmer stürzte. Sie sah Tumanow noch immer ohnmächtig auf dem Flügel liegen, und Luka saß davor und studierte seine fettigen Noten.
»Du Idiot!« schrie Natascha. »Du großgezogener Pferdedreck! Du! Du!«
Sie riß ihm die Noten aus der Hand und schlug sie ihm hin und her ins Gesicht. Und als sie Lukas Grinsen sah, warf sie die Noten weg und nahm die Fäuste. Blindlings trommelte sie auf sein Gesicht ein, auf die Augen, auf die dicke Nase, auf den breiten Mund. Luka rührte sich nicht. Er hielt den Kopf hin und war glücklich.
»Mein Täubchen …«, sagte er, als Natascha erschöpft innehielt und sich keuchend gegen den Flügel lehnte. »So gefällst du mir. So spricht man in Tatarssk … Zusammenbleiben werden wir, und jeden bringe ich um, der mich daran hindern will …«
Tja … und so wurde es auch. Wie sagte Tumanow: Einen Vulkan kann man nicht löschen mit einem Eimer Wasser.
Zwei Wochen nach dem Vorsingen Lukas bekam er einen Gehgips in der Klinik und reiste mit Natascha Astachowa an die Wolga. Nach Saratow.
Waleri Tumanow, der Chefarzt, ja sogar Anatoli Doroguschin standen am Zug, als Natascha und Luka abfuhren.
»In einem Jahr sehen wir uns wieder!« rief Tumanow. Seine Stimme schwankte. Ich habe sie entdeckt, dachte er. Ob ich erlebe, daß eine ganze Welt ihr zujubelt? Sie wird die Krone meines Lebens sein.
Doroguschin reichte ein Paket durch das Fenster. Er legte die Finger auf die dicken Lippen und grinste. »Statt Blumen, Nataschka. Zwei Würste sind's und ein frisches Brot. Laßt sie aber niemanden sehen, hört ihr …«
Und der Chefarzt sagte: »Mein Kollege in Saratow weiß Bescheid. Er wird Sie weiterbehandeln, Luka. Er ist ein sehr guter Chirurg. Ich glaube, in einem Jahr werden Sie wieder laufen können wie früher …«
Das war eine Lüge, aber keiner achtete darauf. Immer würde Luka ein um zwei Zentimeter zu kurzes Bein behalten. Das zu frühe Herunterreißen des Gipses hatte den frisch geheilten Knochen wieder zusammenstauchen lassen. Man sagte es ihm nicht, er würde es noch früh genug bemerken.
Dann fuhr der Zug an, und sie winkten aus dem Fenster, bis der Zentralbahnhof von Moskau im Winternebel versank.
Die Wolga war vereist, die Schollen hatten sich übereinandergeschoben , und an den Brücken sprengten die Pioniere der Roten Armee die meterdicken Eisbarrieren, um die Pfeiler von dem unheimlichen Druck zu befreien.
Die Kälte lag über Saratow, als sei es ein riesiges Gefrierhaus. Nur in Pelzen oder Wattejacken konnte man über die Straßen gehen, und in den Nasenlöchern vereiste die Schleimhaut, weil der Atem gefror.
Luka und Natascha wohnten in einem Haus nahe am Fluß. Weiß war es, aber der Putz blätterte ab, und ein schmutziges Weiß war's, ergraut in den vielen Jahren, die mit dem Wind aus der Steppe über die Mauern geblasen waren. Einmal, so sagten die alten Leute in Saratow, hatte in diesem Haus eine schöne Frau gewohnt. Eine Fürstin Alexandra Odnopoff. Reich war sie, und viele Liebhaber hatte sie, und sogar zwei Bäder und eine französische Masseuse. Dann kam die rote Oktoberrevolution, und zwanzig rote Kosaken rissen die schöne Fürstin Odnopoff auf die Straße, zogen sie nackt aus, legten sie auf den Marktplatz, und – man hat's gesehen, Freunde! – alle zwanzig fielen über sie her, und als sie satt waren und der weiße Leib voll Striemen, senkten sie die Bajonette und spießten die schöne Fürstin auf.
Nun lebten in dem Haus der Fürstin Odnopoff die Schüler der sowjetischen Staatsschule für Gesang und darstellende Kunst. Ein großer Park zog sich an der Wolga entlang, und man erzählte Natascha, daß im Sommer hier die schönsten Feste gefeiert wurden, mit Bootsfahrten auf dem Fluß, bunten Lampen in den Bäumen und unversteckter Liebe auf den saftigen Wiesen.
Natascha war, als sie eintraf in Saratow, nur eine von zwanzig Schülerinnen. Mit Luka hatte man etwas Besonderes vor – er wurde Hausmeister der weißen Villa und hatte dafür zu sorgen, daß alles saubergehalten
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