Natascha
wurde, daß die Öfen brannten, die Fenster geputzt waren und immer die neueste Ausgabe der Prawda und der Mesdunarodnaja Shisn, der Zeitung des internationalen Kommunismus, am Schwarzen Brett angeheftet war.
Währenddessen ging Natascha auf der Wolga Schlittschuh laufen. Sie hatte den Wunsch danach geäußert, und es dauerte keine Stunde, da brachte ihr der Hausverwalter – ein Natschalnik, der über Luka stand und als Beamter die Villa verwaltungstechnisch leitete – ein Paar neue Schlittschuhe.
In diesen ersten Tagen war wenig zu tun. Die Gesanglehrer begrüßten Natascha, als sei sie bereits berühmt, und sie bekam ein großes Zimmer mit einem Blick über den Fluß und hinüber zur Stadt, und der Leiter der Schule besuchte sie am nächsten Tag, fragte, ob alles nach ihren Wünschen sei, ließ Tee und Honiggebäck servieren und behandelte sie wie einen ministeriellen Gast.
»Einen Privatlehrer werden Sie bekommen, Genossin Astachowa«, sagte der Schulleiter. »Anordnung aus Moskau. Den besten Gesangpädagogen, den wir in der Sowjetunion haben. Ulan Högönö heißt er.«
»Ein Mongole?«
»Ein Genie. Das überwiegt, Genossin. Er kann selbst nicht singen, keinen Ton … aber sein Gehör! Sein Gehör ist absolut! Er wird aus Ihnen die reinste Stimme machen, die je auf einer Bühne gesungen hat.«
»Und die anderen Schüler …«
»Die werden Sie kaum zu sehen bekommen, Genossin. Ulan Högönö wird nur für Sie da sein. Sie werden alle Vergünstigungen haben, die es geben kann …« Er zog einen zusammengefalteten Bogen Papier aus der Tasche, breitete ihn vor Natascha aus und legte seine Hand darauf. »Der Lehrplan, Genossin Astachowa, nach dem Ulan Högönö Sie unterrichten wird.«
Natascha nahm den Plan an sich und überlas ihn. Dann sah sie auf und blickte in das lächelnde, undurchdringliche Gesicht des Schulleiters.
»Sieben Stunden Singen? Jeden Tag?« sagte sie hart. »Das ist zuviel …«
»Moskau wünscht es so, Genossin.«
»Ich werde meine Stimme verlieren!«
»Daß es nicht sein wird, dafür wird Ulan Högönö sorgen.«
Natascha warf den Lehrplan auf den Boden und sprang auf. Ihre Wildheit brach wieder hervor, das Auflehnen gegen jeden Zwang … der Schulleiter sah es und legte bewundernd die Hände zusammen.
»Man wird keine singende Maschine aus mir machen!« schrie Natascha. Mit beiden Füßen trat sie auf den Lehrplan und zerriß ihn mit den Schuhsohlen. »Ein Mensch bin ich, und ein Mensch bleibe ich! Warum wollt ihr eine Maschine haben?«
»Weil sie perfekt ist, Genossin. Ein Mensch ist ein unvollkommenes Subjekt. Launen hat er, und einen Willen und zuviel Gedanken, die ihm nichts nützen. Aber eine Maschine denkt nicht, sie fühlt nicht, sie will nichts und sie hat keine Launen. Auf einen Knopf drückt man … und sie arbeitet. Was gibt es Vollkommeneres, Genossin?«
»Ich werde mich dagegen wehren!« schrie Natascha wild.
Der Schulleiter lächelte mild. »Ulan Högönö wird Sie überzeugen, Natascha Astachowa. Gar nicht merken werden Sie's. Man wächst in so etwas hinein … schließlich haben wir zwei Jahre Zeit dafür …«
An diesem Abend ging Natascha wieder zur Wolga, um auf dem Eis zu laufen. Die starre Kälte tat ihr gut und dämpfte die Glut, die in ihr war, den Zorn über den kommenden Ulan Högönö und die wilde Traurigkeit, ein lahmer Vogel in einem goldenen Nest zu sein.
Mit gesenktem Kopf lief sie über das Eis, und die Kufen ihrer Schlittschuhe knirschten, wenn sie in einen Bogen glitt und gegen die Unebenheiten des Eises stießen.
Sie war so völlig in Gedanken, daß sie einen lauten Zuruf überhörte, der übers Eis geschrien wurde.
»Zurück!« rief jemand hell. »Passen Sie auf … zurück da! Zurück!«
Die Laute erreichten nicht ihr Ohr … aber plötzlich war kein Eis mehr unter ihren Schuhen, in graublaues, glattes Wasser glitten sie, es spritzte an ihr empor, und dann versank sie in eine eisige Flüssigkeit, die über ihr zusammenschlug, sie wieder emporriß und ihren Körper in Sekundenschnelle erstarren ließ. Mit beiden Armen stützte sie sich auf den Eisrand, der neben ihrem Kopf wieder auftauchte, schreien wollte sie, aber auch die Stimme war bereits erfroren, ihr Mund blieb offen, und um die Lippen bildete sich eine Eisschicht von gefrierendem Atem.
»Halten Sie sich fest!« hörte sie eine Stimme rufen. »Ganz festhalten …«
Ein Schatten glitt über ihren Kopf, sie fühlte sich unter den Armen gepackt und aus dem eisigen Wasser der
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