Natascha
wird Natascha Astachowa nur singen, wenn dieses Riesentier neben ihr steht. Ertragen wir es also … um der großen Kunst willen.«
Ulan Högönö trat auf das Bett zu und reichte Natascha seine Hand hin. Mit einem leichten Schaudern ergriff sie die kalten Finger und zog dann schnell ihre Hand zurück. Sie hatte nie Angst in ihrem Leben gehabt, und auch jetzt war's keine Furcht, sondern nur das Bewußtsein, daß hier ein Mensch stand, der kommandieren durfte, was sie tun mußte. Wer gab ihm das Recht dazu?
»Sie also sind Ulan Högönö, Genosse?« Natascha warf den Kopf zurück. »Man hat mir von Ihnen erzählt, ich habe Ihren Lehrplan gesehen … sieben Stunden am Tag, das ist Unsinn!«
»Es ist der Lehrplan, den ein Komitee bester Fachleute auf dem Gebiete der Gesangpädagogik unter meinem Vorsitz ausgearbeitet hat.« Högönö setzte sich. Es störte ihn nicht, daß Luka hinter seinen Stuhl humpelte und hinter ihm stand wie ein chinesischer Scharfrichter. »Was vor der Vernunft ist, erweist sich in der Praxis als ein Element, das einen Menschen verwandelt, als sei er ein chemischer Körper, was er ja auch ist. Sie haben von der Natur eine Stimme mitbekommen, Natascha Astachowa. Aber das genügt nicht! Wildwasser dämmt man ein, Flüsse reguliert man, aus Staudämmen gewinnen wir die Energien von Sonnen … mit anderen Worten: Es ist nötig, die Natur zu formen. Und das werden wir bei Ihrer Stimme tun, Genossin … wir werden aus dem Erz den Stahl schmieden … aus der rohen Goldader ein funkelndes Geschmeide. Und jede Formung ist Gewalt, Genossin.«
»Ich bin kein Rohstoff!« schrie Natascha in das gelbgrüne Gesicht hinein. Högönö lächelte wieder.
»Jeder Mensch ist Rohstoff. Das war die größte Erkenntnis des Bolschewismus!«
»Aber ich will nicht! Ich lasse mich nicht zwingen! Ich habe es nie getan!«
»Wer will Sie zwingen, Genossin? Freude werden Sie an allem haben, was wir tun. Und Sie werden auf keine Uhr mehr sehen und die Stunden zählen …«
»Aber ich lehne mich auf gegen jeden persönlichen Zwang …«
»Sie werden es gar nicht nötig haben, Genossin.« Ulan Högönö erhob sich. »In zwei Tagen werden Sie entlassen. Es liegen keine Anzeichen einer Lungenentzündung vor. Am nächsten Dienstag ist unsere erste Stunde. Wir werden eine Arie einstudieren. Von Mozart.«
»Mozart?!« Über Nataschas bleiches Gesicht zog ein Leuchten. »Das ist schön! Seine Musik ist wie perlendes Wasser in einer Fontäne …«
Ulan Högönö verneigte sich leicht. »Sehen Sie, Natascha … Sie freuen sich bereits. Was wollen wir denn mehr?«
Er verließ das Zimmer, und Luka drückte hinter ihm die Tür zu und stemmte sich mit dem Rücken dagegen. Nachdenklich saß Natascha im Bett und spielte mit den langen, schwarzen Haaren. Sie wickelte sie um die Finger und ließ sie dann wieder abschnellen.
»Ein ganz raffinierter Hund ist's!« sagte Luka dumpf. »Man sollte ihn heimlich in der Wolga ersäufen …«
Natascha antwortete nicht. Sie hing ihren Gedanken nach. Zwei Männer waren's, die neu in das Leben getreten waren. Der junge, blonde Ingenieur Sedow und der Mongole Ulan Högönö. Merkwürdig, daß sie in diesem Augenblick mehr an Sedow dachte. Er ist ein schöner Mann, empfand sie. Und wenn er spricht, erinnert man sich daran, daß man ein Weib ist. Seltsam ist das. Und schön.
»Du kannst mein neues Kleid holen, Luka«, sagte sie. »Und die Jacke mit den bunten Stickereien. Und die braunen Stiefel mit dem weißen Hasenfell … ich will mich anziehen, bevor er wiederkommt …«
»Der Gelbe …?«
»Nein … der Blonde …«
Luka nickte mehrmals. Dann seufzte er und lehnte sich gegen die Wand.
»Jetzt werden selbst im Winter die Wölfinnen heiß«, sagte er philosophisch und duckte sich, weil ihm Natascha einen Blechteller an den Kopf warf.
Acht Wochen sind eine lange Zeit, wenn man sie in einem eingeschneiten Haus hinter verklebten Fenstern verbringt. Für Natascha Astachowa waren diese acht Wochen ein Zeitraum, den sie durchmaß, als habe sie Märchenstiefel, die Tage zu Minuten schrumpfen ließen.
Vormittags übte sie mit Högönö Tonleitern und die messa di voce, Kantilenen und Portamenti, Atemtechnik und Notenkunde, besonders das Partiturlesen. Dann schlief sie eine Stunde nach dem Mittagessen, sang am Nachmittag immer wieder ihre Arie aus Mozarts ›Zauberflöte‹, jenes Bravourstück der Königin der Nacht ›Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen …‹, bis sie jeden Ton kannte, bis
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