Natascha
das Fliegen verlernt hat –«
Aber zunächst geschah nichts.
Natascha sang wie bisher ihre Proben in der Oper, und Anatoli Doroguschin wurde sicher, daß der Genosse Berija ein kleiner Zauberer sei. Sie fragte nicht mehr nach Sedow, und Anträge stellte sie auch keine mehr. Und singen tat sie wie ein Engelchen, so schön, daß der Dirigent dreimal eine Arie wiederholen ließ, nur um sie immer wieder zu hören.
Fünf Tage – und keiner merkte es – schlich Luka in den großen Güterbahnhöfen herum und sprach mit Bahnbeamten, Arbeitern und Transporteuren. Sogar einen Waggon Säcke abladen half er mit. Für zwei Rubelchen Trinkgeld.
Am sechsten Tag stand er vor einem Zug, den man gerade zusammenstellte. Über Weichen und Schienen liefen die Wagen zusammen, und ein mürrischer Mann kroch zwischen sie und kuppelte sie aneinander.
»Ein schöner Zug, Genosse«, rief Luka zu ihm hin. »So lang wie er ist, so schön ist er!«
Der mürrische Genosse schneuzte sich laut. »Ist wie jeder Zug. Was willst du hier?«
»Ein Interesse hab' ich nun mal für Züge«, sagte Luka und zeigte auf den langen Zug. »Wo geht er hin, Brüderchen?«
»Wohin schon? Nach Sibirien! Wird Holz zurückbringen und schafft Traktoren hin …«
»Auch nach Jessey?«
»Weiß ich's? Mich interessiert es nicht! Ich muß sie zusammenkoppeln und die Augen aufmachen. Mein Vorgänger wurde zerquetscht … zwischen den Puffern … Sah aus wie eine Flunder, das Brüderchen –«
Luka verzichtete auf eine Antwort und ging. Er merkte sich den Standplatz des Zuges, und um ganz sicher zu sein, ritzte er mit einem Stein in einen Wagen ein dickes D, was soviel heißen sollte wie: do swidanija (Auf Wiedersehen).
In der Nacht, gegen zwei Uhr war's genau, richteten sich Natascha und Luka in einem Waggon mit Ersatzteilen von Landmaschinen ein. Einen ganzen Sack voll Essen hatte Luka mitgeschleppt, eine dicke Eisenstange, die kein neugieriger Schädel überlebte, und zwei dicke Decken, denn noch war's kalt in Sibirien, vor allem in den Nächten.
Gegen Morgen rollte der Zug aus Moskau heraus. Luka blickte durch die obere Luftklappe des Waggons und sah, daß sie an der Moskwa entlangfuhren. Natascha schlief, zusammengerollt, in den Decken eingewickelt.
Nach Sibirien, dachte Luka und ließ die Klappe herunterfallen. Ist es nicht verrückt auf der Welt, Genossen? Die einen wimmern, wenn sie nach Sibirien müssen, und wir fahren freiwillig dorthin!
Der Mensch ist doch ein merkwürdiges Geschöpf.
Die Probe in der Oper fiel aus.
Doroguschin, der eine Stunde gewartet hatte und dann einen Boten in Nataschas Wohnung schickte, schrie wie ein gestochener Ochse auf, als man sagte, die Wohnung sei leer und verlassen.
»Sie muß her!« brüllte er. »Her muß sie!« Dann raufte er sich die Haare, weil niemand wußte, wo Natascha war, und weil er an den Genossen Berija dachte, der nur einen kleinen Haken hinter einen Namen zu setzen brauchte – und schon schaufelte der Totengräber ein neues Loch in die Erde.
»Warum sich aufregen, Genosse?« sagte Berija, als Doroguschin ihm den Vorfall bleich und vor Angst schwitzend meldete. »Der Genosse Tumanow hat aus Khuzhir einen defätistischen Brief geschrieben. An die Tschugunowa. Natürlich hat sie ihn nie bekommen. Und auch der liebe Sedow in Jessey beschwerte sich. Es liegt bei den Akten. Alles paßt zusammen, finden Sie nicht auch? Wissen wir, ob Tumanow nicht die Möglichkeit hatte, durch einen Boten Nachricht zu geben? Rußland ist groß, gewiß … aber wenn wir zwei Menschen suchen wollen wie Natascha und Luka, ist es nicht größer als ein Handteller.« Berija griff zum Telefon. Ein Augenblick war's, mit dem die Fahrt Nataschas und Lukas eigentlich schon beendet war. Sie hätten ebenso aussteigen können auf der nächsten Station. Keinen Zug nach Sibirien gab es mehr, der nicht angehalten und untersucht wurde.
In Krepyschewka, einem Nest im Ural, hielt denn auch der Zug mit den Traktoren und Landmaschinen, und fünfzig Rotarmisten umstellten ihn. Ein Offizier ging von Wagen zu Wagen, klopfte gegen die Holzwände und schrie: »Bitte steigen Sie aus, Genossin …« Luka, der durch die Luftklappe schielte, rieb sich die Stirn.
»Ein Mist ist's mit der guten Organisation!« sagte er bedrückt. »Wie kann ein Mensch selbständig denken, wenn alles schon organisiert ist?!«
Natascha legte die Decken zusammen. Dann kämmte sie sich, steckte die langen, schwarzen Haare auf und setzte sich auf eine Kiste. »Mach auf,
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