Natascha
einen langen Weg nach Sibirien zu Luka Nikolajewitsch Sedow. Auch dessen Antwortbriefe machten den Umweg über den Schreibtisch des magenkranken Zensors, nur blieben sie dort hängen, wurden im Original in die Akten geheftet und verschwanden in einem Fach der eisernen Schränke an der Wand.
Anatoli Doroguschin war es, der Natascha und Luka vom Bahnhof abholte, als sie von Sotschi zurückkehrten nach Moskau.
»Eine freudige Nachricht, Genossin!« rief Doroguschin, noch bevor Natascha die letzte Stufe der Wagentreppe hinabgesprungen war. »Nein, zwei Nachrichten! Ein Glückskind sind Sie, Natascha Tschugunowa! An mein Herz!«
Er drückte Natascha an sich, und sie roch, daß er Wodka getrunken und eine Suppe gegessen hatte, in der man Knoblauch verarbeitete.
»Wo ist Waleri Tumanow?« fragte Natascha und sah sich auf dem Bahnsteig um. »Ich hatte ihm geschrieben …«
»Der liebe, gute Waleri!« rief Doroguschin. Sein fettes Gesicht glänzte wie eingeölt. Wie ein mit heißer Butter bestrichener Schweinskopf sah er aus. »Das ist eine dritte Nachricht. Gut geht's ihm, sehr gut!« Er faßte Natascha unter und beobachtete Luka, der das Gepäck aus dem Zug warf. »Sind Sie nicht neugierig, Genossin ›Heldin der Nation‹?«
»Müde bin ich.« Natascha atmete ein paarmal tief auf. Die lange Fahrt vom Schwarzen Meer bis Moskau, die Wolga hinauf und durch die Steppe, lag bleiern in ihren zarten Gliedern.
Anatoli Doroguschin wartete, bis das Gepäck von einem Mann und Luka vom Bahnsteig geschleppt wurde zu dem Staatswagen, der vor dem Bahnhof parkte.
»Die Neuigkeit Nummer eins, Natascha«, sagte er mit glänzenden Augen. »Sie haben eine Wohnung! Eine komplette Wohnung. In der Nähe des Bolschoi-Theaters, vier Zimmer, große Zimmer. Von den Fenstern blicken Sie auf die Türme des Kreml, auf das Mausoleum, auf die St.-Basilius-Kathedrale, auf den Roten Platz.« Doroguschin schwieg erwartungsvoll. Als Natascha die Mitteilung hinnahm wie nicht gehört, räusperte sich der dicke Anatoli. »Wissen Sie, was das bedeutet, Genossin? Heute, bei der Wohnungsknappheit, wo drei Familien in einem Zimmer wohnen, und die Kinder nachts auf den Bäuchen der Eltern liegen, weil kein Platz mehr ist?! Eine ganze Wohnung mit vier Zimmern für Sie allein?! Das hat nur noch die Ulanowa! Und Sie freuen sich nicht?!«
»Wo ist Waleri Tumanow?« fragte Natascha.
»Der alte Knabe, haha, na ja … Sie werden's sehen. Nun noch die Neuigkeit Nummer zwei: Sie bleiben in Moskau! Sie werden in Moskau an meiner Oper singen. Sie werden der ›Star‹ der Moskauer werden, um mit einem Ausdruck des Westens zu sprechen. Darf ich Ihnen sagen, Natascha, ohne daß Sie überschnappen, daß Rußland endlich, endlich einen großen Sopran hat … eine Stimme, vor der die Welt auf den Knien liegen wird?! Man hat es oben, ganz oben, erkannt, mein Vögelchen. Genosse Stalin selbst wird dabei sein, wenn Sie die Saison eröffnen. Ein Paradies wird sich öffnen –«
Wirklich, es war eine wilde Begeisterung, die in Doroguschin loderte. Er sprach noch davon, als der Wagen schon quer durch Moskau rollte und vor einem großen Hause hielt, von dem man wirklich alles sehen konnte, was Moskaus Schönheit in die Herzen gräbt. Und ein Himmel war darüber, blau und wolkenlos und bis in die Unergründlichkeit von der Sonne durchleuchtet. Natascha und Luka standen am Fenster, während Doroguschin eine Flasche Wodka holte, die er zur Begrüßung in die Wohnung gestellt hatte.
»Es lebe unser Paradies!« rief er emphatisch.
Natascha wandte sich ab. Ihre dunklen Augen waren fast schwarz.
»Wo ist Tumanow?« fragte sie.
Doroguschin hustete. Der Wodka war ihm in die Luftröhre gehüpft durch den plötzlichen Schreck.
»Er lebt wie ein Fürst, Nataschka! Er ist nach Khuzhir zurück –«
»Nach Khuzhir?«
»Ein neuer Auftrag! Natascha Tschugunowa ist fertig. Er hat uns einen Engel abgeliefert. Jetzt bildet er in Khuzhir einen Sänger aus, Juri Semenow, einen Tenor. Eine große Hoffnung für uns, eine Stimme wie Richard Tauber. Ja ja, der Genosse Waleri ist ein guter Pädagoge. Fast unersetzbar. Er riecht die Talente förmlich –«
Natascha schwieg. Sie war zu müde, um weiter zu fragen. Der Weggang Tumanows war so geheimnisvoll, wie seinerzeit sein Auftauchen im Werkchor der Fabrik ›Große Wolga‹. Er hatte schreiben wollen nach Sotschi, aber nie war ein Brief gekommen, ebensowenig, wie die Briefe Sedows Natascha erreichten. Als seien sie gar nicht in ihrem Leben
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