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Nathalie küsst

Nathalie küsst

Titel: Nathalie küsst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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gehabt hatte, doch diesmal war es stärker. Das Gefühl einer gewissen Faszination. Dieser Mann war wirklich zu allem fähig. Wer würde es wagen, zu einem solchen Termin zu spät zu kommen? Wer wäre imstande, derart seine Autoritätzu untergraben? Da blieb einem doch die Spucke weg. Dieser Mann hatte Nathalie verdient. Daran bestand kein Zweifel. Das war mathematisch erwiesen. Chemisch erprobt.
    Manchmal, wenn man spät dran ist, denkt man sich: Rennen hilft jetzt auch nichts mehr. Ob man nun 30 oder 35 Minuten zu spät kommt, läuft doch aufs Gleiche hinaus. Also lieber den anderen noch ein bisschen länger warten lassen, als schweißgebadet ankommen. Das dachte sich auch Markus. Er wollte sich nicht atemlos und hochrot im Gesicht präsentieren. Er wusste: Sobald er auch nur ein wenig rannte, sah er aus wie ein Neugeborenes. Somit graute ihm, als er aus der Metro stieg, bei dem Gedanken, so viel zu spät zu kommen (und seinen Chef nicht benachrichtigt zu haben, aber er hatte die Handynummer nicht), ging jedoch gemäßigten Schrittes. Und so war er ruhig, ganz ruhig, als er sich mit rund einer Stunde Verspätung zum Essen einfand. Das schwarze Jackett betonte seine gleichsam grabesruhige Ausstrahlung. Ein bisschen so wie in einem Film noir, wo die Helden stumm aus einem Halbschatten hervortreten. Charles hatte derweilen annähernd eine Flasche Wein geleert. Damit wiegte er sich in einer romantischen, nostalgischen Stimmung. Die schnellbahntechnischen Entschuldigungen, die Markus anführte, hörte er gar nicht. Mit dessen Erscheinen war ihm der Inbegriff der Gnade zuteilgeworden.
    Und im Geiste dieses triumphalen ersten Eindrucks sollte der Abend dahinschaukeln.

 
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    Bernard Blier über Pierre Richard in

Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh
    Das ist ein ganz ausgeschlafener Bursche.

 
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    Im Laufe des Abends wunderte Markus sich sehr über Charles’ Gebaren. Dieser war nicht in der Lage, einen Satz zu Ende zu führen, und brabbelte und sabberte und stammelte. Ab und an lachte er abrupt auf, aber nie in den Momenten, in denen sein Gegenüber um Erheiterung bemüht war. Zwischen seiner inneren Uhr und der Gegenwart klaffte eine Art Zeitverschiebung. Nach einer Weile fasste Markus sich ein Herz:
    «Sind Sie sicher, dass Sie sich auch wohlfühlen?»
    «Wohlfühlen? Ich? Wissen Sie, seit gestern ist es immer so. Vor allem gerade im Moment.»
    Die Zusammenhanglosigkeit dieser Bemerkung erhärtete Markus’ Verdacht. Charles war nicht vollkommen verrücktgeworden. Wenn hie und da kurz sein Verstand aufblitzte, spürte man, dass er lediglich ins Wanken geraten war. Aber er hatte sich selbst nicht in der Gewalt. Bei ihm waren einige Sicherungen durchgebrannt. Er fand sich einem Schweden gegenüber, der sein Leben, sein System aus der Bahn geworfen hatte. Er mühte sich, in die Realität zurückzukehren. Markus hatte in der Vergangenheit zwar schon viel Düsteres erlebt, war aber nicht weit von dem Gedanken entfernt, dass dieses Essen vielleicht das düsterste seines Lebens war. Das will einiges heißen. Dennoch konnte er das wachsende Mitleid, das ihn ergriff, schwer bändigen, das Bedürfnis, diesem Wrack unter die Arme zu greifen.
    «Kann ich Ihnen irgendwie helfen?»
    «Ja bestimmt, Markus … Ich werd mal überlegen, das ist nett von Ihnen. Stimmt, Sie sind nett … das merkt man … Zum Beispiel daran, wie Sie mich ansehen … Sie verurteilen mich nicht … Ich verstehe allmählich … Jetzt wird mir alles klar …»
    «Was wird Ihnen klar?»
    «Na das mit Nathalie. Je länger ich Sie ansehe, desto klarer wird mir, woran es mir mangelt.»
    Markus stellte sein Glas ab. Ihn hatte schon die leise Ahnung beschlichen, dass das Ganze mit Nathalie zusammenhängen könnte. Entgegen aller Erwartungen überkam ihn erst mal ein Gefühl der Erleichterung. Es war das erste Mal, dass er auf sie angesprochen wurde. Nathalie entschwand in genau diesem Moment seiner Traumwelt. Und trat ins wirkliche Leben ein.
    Charles fuhr fort:
    «Ich liebe sie. Wissen Sie, dass ich sie liebe?»
    «Ich weiß vor allem, dass Sie zu viel getrunken haben.»
    «Na und? Das ändert doch nichts daran. Ich bin bei klarem Verstand. Ich sehe ganz klar, woran es mir fehlt. Wenn ich Sie anschaue, wird mir klar, wie sehr ich im Leben versagt habe … was für ein oberflächliches Dasein ich geführt habe … und was für Kompromisse ich ständig eingegangen bin … Es mag Ihnen komisch erscheinen, aber ich will Ihnen sagen, was ich noch nie jemandem

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