Nathan der Weise
Wer?
SALADIN . Mein Bruder! ganz gewiss! Mein Assad! ganz
Gewiss!
3830
NATHAN . Nun, wenn du selbst darauf verfällst: –
Nimm die Versichrung hier in diesem Buche!
(Ihm das Brevier überreichend.)
SALADIN
(es begierig aufschlagend)
.
Ah! seine Hand! Auch die erkenn ich wieder!
NATHAN . Noch wissen sie von nichts! Noch steht’s bei dir
Allein, was sie davon erfahren sollen!
SALADIN
(indes er darin geblättert)
.
Ich meines Bruders Kinder nicht erkennen?
Ich meine Neffen – meine Kinder nicht?
Sie nicht erkennen? ich? Sie dir wohl lassen?
(Wieder laut.)
Sie sind’s! sie sind es, Sittah, sind! Sie sind’s!
Sind beide meines … deines Bruders Kinder!
(Er rennt in ihre Umarmungen.)
SITTAH
(ihm folgend)
.
3840
Was hör ich! – Konnt’s auch anders, anders sein! –
SALADIN
(zum Tempelherrn)
.
Nun musst du doch wohl, Trotzkopf, musst mich lieben!
(Zu Recha.)
Nun bin ich doch, wozu ich mich erbot?
Magst wollen, oder nicht!
SITTAH . Ich auch! ich auch!
SALADIN
(zum Tempelherrn zurück)
.
Mein Sohn! mein Assad! meines Assads Sohn!
TEMPELHERR . Ich deines Bluts! – So waren jene Träume,
Womit man meine Kindheit wiegte, doch –
Doch mehr als Träume!
(Ihm zu Füßen fallend.)
SALADIN
(ihn aufhebend)
. Seht den Bösewicht!
Er wusste was davon, und konnte mich
Zu seinem Mörder machen wollen! Wart!
(Unter stummer Wiederholung allerseitiger Umarmungen fällt der Vorhang.)
Editorische Notiz
Der Text der vorliegenden Ausgabe folgt der Edition:
Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Lachmann. Dritte, aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. Bd. 3. Stuttgart: G.J. Göschen’sche Verlagshandlung, 1887. [Darin:
Nathan der Weise
.]
Die Orthographie wurde auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln behutsam modernisiert; der originale Lautstand und grammatische Eigenheiten blieben gewahrt. Die Interpunktion folgt der Druckvorlage.
LEKTÜRESCHLÜSSEL
FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER
Gotthold Ephraim Lessing
Nathan der Weise
Von Theodor Pelster
Philipp Reclam jun. Stuttgart
1. Erstinformation und Hinführung zum Werk
»[...] und er will – Wahrheit.« So wundert sich der Jude Nathan an einer zentralen Stelle in Lessings Drama
Nathan der Weise
. Er war von Sultan Saladin vorgeladen worden, hatte erwartet, dass er um Geld angegangen werde, und wird nun mit einem ganz anderen Problem konfrontiert. Der Gedankenstrich, der vor dem bedeutungsschweren Substantiv steht, zeigt eine Verzögerung an, die einerseits Ausdruck der Überraschung ist und die andererseits daran denken lässt, dass es sehr viel schwerer ist, einen Herrscher mit Wahrheit als mit Geld zu bedienen.
Nicht nur der Sultan will Wahrheit. Gewissheit über den Lauf der Welt und das Leben der Menschen zu gewinnen ist seit jeher ein menschliches Bestreben gewesen. Im Begriff der
Aufklärung
wird dieses Anliegen zu einem allgemeinen Programm. Von Frankreich und England ausgehend, erreicht die Forderung nach Aufklärung im 18. Jahrhundert Deutschland und hat bis heute nichts an Bedeutung verloren: Von der »Verbraucheraufklärung« bis zum parlamentarischen Untersuchungsausschuss gibt es eine Reihe von Gremien, die es sich zum Ziel gesetzt haben, Sachverhalte aufzuklären und Personen angemessen zu informieren, ihnen Gewissheit zu verschaffen.
Das deutsche Wort
Aufklärung
gehört zur gleichen Wortfamilie wie
klar, Klarheit, erklären
und wird ursprünglich im Bereich der Wetterkunde verwendet. Aufklärung nennt man dort den Vorgang, dass sich Wolken und Nebel auflösen, die Sonne durchbricht und für Licht und Klarheit sorgt. Überträgt man das Bild, so ist Aufklärung der Prozess, in dem sich das Licht der Wahrheit Bahn bricht und alle Unklarheiten menschlichen Denkens und Meinens beseitigt. Eine Erkenntnis, so wird seit den berühmten Überlegungen des französischen Philosophen Descartes (1596–1650) gefordert, muss »clare et distincte« 1 , also klar und deutlich sein, wenn sie Verbindlichkeit beanspruchen will.
Im Prozess der Aufklärung war zunächst zu fragen, welche Wolken und welcher Nebel das klare Denken beeinträchtigen. Sehr schnell durchschaute man, dass alle Arten von Aberglauben und Zauberei, von Gespensterglaube und
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