Nathan der Weise
Spukerzählung Hemmnisse der Wahrheitsfindung sind. Der deutsche Philosoph Thomasius ging dann in seiner
Einleitung zur Vernunftlehre
(1691) noch radikaler vor und forderte, dass grundsätzlich alle »Praejudicia«, also alle Vor-Urteile geprüft werden müssten; denn sie seien »der Quell aller falschen Meinungen« 2 . Vor-Urteile sind für ihn jene Ansichten, mit denen Kinder aufwachsen, ehe sie eigenständig denken können, und solche Gedankensysteme, die auch Erwachsene bedenkenlos von unterschiedlichen Autoritäten übernehmen, weil sie nicht eigenständig denken wollen. Als Instanzen, die solche Autorität beanspruchen und Gehorsam erwarten, werden zunächst die Kirchen und Kirchenführer und später die Staaten und Herrscher auf den Prüfstand gestellt.
In der berühmten Aufforderung des Königsberger Philosophen Immanuel Kant »Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen« 3 ist ansatzweise das ganze Programm der Aufklärung enthalten. Jeder einzelne wird aufgefordert, von der eigenen Vernunft Gebrauch zu machen und jede angebotene Meinung zu überprüfen. Die Methode der Überprüfung soll in einer kritischen öffentlichen Erörterung erfolgen. Kritik ist, wörtlich übersetzt, die »Kunst der Beurteilung« und gilt als eine der wichtigsten Fähigkeiten des Menschen, um sich vor den Folgen von Irrtum und Täuschung zu bewahren. Dabei ist zu beachten, dass Kritik einer Sache, eines Satzes oder einer Person nicht Ablehnung, sondern Untersuchung bedeutet. Kritik ist eine Methode, durch welche die Bedingungen und Möglichkeiten des Erkennens und des Handelns geprüft werden.
Angestrebt wird das richtige, zuverlässige, gewisse und deshalb wahre Urteil. Ungewiss ist, ob dieses große Ziel für Menschen jemals erreichbar ist. Leichter ist es, begründete Zweifel vorzutragen als vorhandene Zweifel zu beheben. Eine Möglichkeit, durch begründendes Denken zur Klarheit zu kommen, sieht man in den Formen des Diskurses, der mündlichen und schriftlichen Erörterung von Problemfragen. Dazu gehört, genaue Begriffe zu bilden, verständliche Behauptungen aufzustellen und überzeugende Argumente zur Beweisführung beizubringen. Verstand und Vernunft sind gefragt; der Verzicht, sich auf Autoritäten und tradierte Geltungsansprüche zu berufen, ist Voraussetzung.
Lessing fordert mit seinem Drama
Nathan der Weise
dazu auf, sich an der Wahrheitssuche zu beteiligen. Er entwirft ein Modell, in dem die Frage nach der Wahrheit der Religion erörtert wird. Für seine Zeit war diese Frage besonders brisant, weil Staat und Kirche in enger Verbindung standen. In dem Augenblick, in dem den Lehren der Kirche der blinde Gehorsam aufgekündigt und sie zum Diskurs aufgefordert wurde, musste der absolut regierende Herrscher, der sich als »Herrscher von Gottes Gnaden« ausgab, vermuten, dass auch er und seine Legitimation zur Diskussion gestellt würden.
Über die theologische und politische Diskussion hinaus wuchs die philosophische. In der Einleitung zu seiner Logik schreibt Immanuel Kant: »Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung lässt sich auf folgende Fragen bringen:
1. Was kann ich wissen?
2. Was soll ich tun?
3. Was darf ich hoffen?
4. Was ist der Mensch?« 4
Die Fragen sind offen. Unterschiedliche Meinungen liegen als Antworten bereit. Zu prüfen ist, inwieweit in ihnen begründete Wahrheiten enthalten sind.
2. Inhalt
I. Aufzug
1. Der Jude Nathan, ein reicher Kaufmann aus Jerusalem, ist von einer weiten Geschäftsreise, die ihn während eines Waffenstillstands zur Zeit der Kreuzzüge bis Babylon führte, wohlbehalten nach Hause zurückgekehrt. Hier muss er erfahren, dass in der Zwischenzeit sein Haus brannte und dass Recha, seine Pflegetochter, die allgemein für seine leibliche Tochter gehalten wird, von einem Tempelherrn aus den Flammen gerettet wurde. Daja, eine Hausangestellte christlichen Glaubens, möchte in der Rettung Rechas ein Wunder, also einen unmittelbaren Eingriff des Himmels sehen. Nathan weist diese Deutung zurück. Er hält die Rettung für die gute Tat eines edlen Mannes, bei dem er sich unbedingt bedanken möchte. Überraschend und der Erklärung bedürftig sind für ihn die näheren Umstände der Tat: Wie ist zu erklären, dass im Herrschaftsbereich des muslimischen Sultans Saladin ein christlicher Tempelherr freien Ausgang hat, während auch zur Zeit der augenblicklichen Waffenruhe christlichen Tempelrittern meist die Hinrichtung droht, wenn man ihrer habhaft wird?
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