Nathanael
Moment, um zu sich zu kommen. Wo war Nathanael? In der Bar? Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte vollgestopft.
Die Erinnerungen kehrten allmählich zurück. Sie wollte zu Ernest fahren, um ihn zur Rede zu stellen. Aber Nathanael war dagegen gewesen, weil er es für zu gefährlich gehalten hatte, das Engelsghetto zu verlassen. Sie hatten sich gestritten, bis ihr Geist in einem Nebel versunken war.
«Oh, nein.»
Wütend schlug Tessa mit der Hand auf die Bettdecke. Sie war zwar erschöpft gewesen nach dem Erlebnis im U-Bahn-Schacht, aber nicht so müde, dass sie auf der Stelle eingeschlafen wäre. Nathanael musste sie irgendwie betäubt haben.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, etwas eingenommen zu haben. Aber waren da nicht tiefe Untertöne in seiner Stimme gewesen, die ein taubes Gefühl in ihrem Innern hinterlassen hatten. Besaß er die Macht, durch den Klang seiner Stimme jemanden schläfrig zu machen?
Und das alles, weil er nicht wollte, dass sie zu Ernest fuhr. Hatte er denn nicht verstanden, wie wichtig ihr das war? Er konnte nicht einfach über sie entscheiden, auch nicht aus Sorge.
Natürlich war ihr bewusst gewesen, welches Risiko sie einging, wenn sie das Ghetto verließ. Das Leben an Nathanaels Seite würde zukünftig immer voller Gefahren sein. Wollte er sie immer wieder betäuben, sobald es gefährlich wurde? Sie musste ihm klarmachen, wie wütend sie über seine eigenmächtige Entscheidung war.
Doch erst musste sie sich vergewissern, ob er tatsächlich zu ihrem Bruder gefahren war. Sie griff nach ihrem Handy und wählte Ernests Nummer. Während das Rufzeichen im Telefon ertönte, stand sie vor dem Fenster und spähte in die Dunkelheit hinaus.
«Komm schon, Ernest, geh ran.»
Aber ihr Stiefbruder nahm nicht ab. Mit einem Fluch beendete sie den Anruf. Ernest war nicht zu Hause, also konnte Nathanael nicht bei ihm sein. Aber wo war er dann?
Sie war nahe dran, in die Dunkelheit zu laufen, um nach ihm zu suchen. Aber wo sollte sie beginnen? Nein, sie konnte nicht einfach kopflos drauflos rennen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als hier auf ihn zu warten und zwischendurch weiter zu versuchen, Ernest zu erreichen.
Nichts stimmte mehr in ihrem Leben, seitdem sie und Nathanael sich begegnet waren. Durch ihn erlebte sie Himmel und Hölle.
Sie sank aufs Bett, als ihr Blick auf Hazels Laptop fiel. Sie musste noch einmal die Dateien durchgehen. Vielleicht hatten sie etwas übersehen? Wenn sie gegen die Schuldigen vorgehen wollte, brauchte sie Beweise.
Tessa seufzte frustriert, als die Dateien von Seths CD nicht mehr preisgaben als vorhin. So kam sie nicht weiter. Vielleicht fand sich ein Hinweis im Internet.
Sie hob das Lan-Kabel vom Boden auf und stöpselte es in den Laptop. In der Suchmaschine gab sie den Namen des Medical Centers ein. Aber auch hier wurde sie nicht weiter fündig.
Nacheinander tippte sie Ernests Namen ein, dann den von Schwester Bertha und stieß nur auf Fotos und Berichte irgendwelcher kirchlicher Feiern, die sie nicht weiterbrachten.
Schließlich nahm sie sich Steven vor. Kaum hatte sie seinen Namen eingegeben, wurde sie von den aktuellen Schlagzeilen erschlagen.
«Schwere Vorwürfe gegen Greenberg Pharma. Wurden die Mitglieder der Kommission für die Freigabe von Schmerzmitteln manipuliert?»
Sicher wusste Steven bereits von den Vorwürfen und hatte eine Pressekonferenz geplant. Sollte er etwa die Mitglieder der Kommission bestochen haben, um das Medikament für den Markt freigeben zu lassen? Sicher hatten die Unsummen dafür verlangt, Geld, das Steven, als er die Firma von seinem Vater übernommen hatte, noch nicht besessen hatte. Denn erst durch den Verkauf des Medikaments hatte sich der finanzielle Erfolg eingestellt.
Also musste Steven den Pakt mit Luzifer eingegangen sein. Es erschütterte sie, dass er nur um des Erfolgs willen zu solch einer skrupellosen Tat fähig war. Das würde bedeuten, dass sie Jahre an der Seite eines Mannes gelebt hatte, den sie nie wirklich gekannt hatte.
Als plötzlich ihr Handy klingelte, schrak sie zusammen. Nein, sie konnte jetzt mit niemandem sprechen. Nicht, nach dieser Entdeckung. Und wenn es Ernest war? Sie warf einen Blick aufs Display. Unbekannter Teilnehmer. Sie entschied, nicht abzunehmen.
Doch das verdammte Handy hörte nicht auf zu klingeln. Nach einer endlosen Weile verstummte es. Das Display zeigte an, dass sich ein Dutzend Nachrichten in ihrer Mailbox befanden, die sich in den letzten Tagen angesammelt hatten.
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