Nathanael
drei wichtigen Eigenschaften beschreiben: verlässlich, hilfsbereit und sehr introvertiert. Er mochte den stillen Blutengel und hatte ihn im Laufe der Zeit schätzen gelernt.
Nachdem er aufgelegt hatte, schob er dem Mann über den Tresen eine Fünfdollarnote zu und verließ mit Tessa das Restaurant. Es war sein letzter Schein gewesen. Wenn sich ihm nicht bald ein neuer Auftrag bieten würde, könnte er nicht einmal mehr die Miete bezahlen.
Nach Ginas Tod hatten sich ihm nur wenig lukrative Aufträge geboten. Und von Frauen ließ er sich nicht mehr anheuern. Dabei brauchte er das Geld zum Überleben. Die Aufträge der Engel waren wenig einträglich. Mal ein paar Dollar, die kaum ausreichten, einen Monat zu überbrücken, denn Geld spielte für die Himmelswesen keine Rolle. Sie mussten ja auch nicht essen oder einen Wagen bezahlen. Einzig das Ausführen des göttlichen Befehls zählte für sie.
Nathanael verließ mit Tessa das Restaurant. Sie versuchte, ihre Erschöpfung vor ihm zu verbergen. Nur der Griff ihrer Finger verstärkte sich um seinen Arm. Aber sie fragte nicht einmal danach, wen er angerufen hatte.
Als Nathanael auf das Financial Center zulief, waren seine Sinne aufs Äußerste geschärft. Immer wieder glitt sein Blick die Fassaden entlang auf der Suche nach einem Verfolger. Aber außer einer Gruppe Betrunkener, die durch die Straßen zog, sah er nichts, und sie erreichten unbehelligt den vereinbarten Treffpunkt, an dem Aaron sie abholen wollte.
15.
Als Nathanael ihr die Tür aufhielt, sackte Tessa auf den Rücksitz des Hondas. Sie spürte jeden einzelnen Knochen im Leib. Außerdem war sie klitschnass und ihre Kleidung stank nach Rauch. Nichts wünschte sie sich mehr als eine heiße Dusche, frische Kleidung und ein bequemes Bett. Vertraute Neonreklame rauschte an ihr vorbei, Ankündigungen von Theateraufführungen. Der Fahrer des Wagens, ein attraktiver Latino mit schmalem Gesicht und ernster Miene, hatte sie nur mit einem Nicken begrüßt.
Wenn sie Nathanael beim Einsteigen richtig verstanden hatte, war auch er ein Blutengel.
Nathanael nahm vor ihr auf dem Beifahrersitz Platz. Sie war noch immer so benommen, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Abwechselnd tauchten Erinnerungsfetzen auf, ihr Telefonat mit Steven, das Feuer und der Gefallene. Nur langsam lichtete sich der Nebel in ihrem Kopf. Sacred Hearts. Der Name echote in ihrem Kopf. Dann hörte sie wieder die Stimme des gefallenen Engels: Spring .
Ein eiskalter Schauer lief ihr Rückgrat hinab. War Hazel das Gleiche widerfahren?
Der Wagen schoss den Broadway entlang. Nathanael sah schweigend zum Fenster hinaus. Er hatte sie aufgefangen und vor dem Tod bewahrt, als sie aus dem Fenster gesprungen war.
Langsam erinnerte sie sich wieder an alle Details. Auch an Nathanaels sanften Kuss, der sie aus dem Alptraum gerissen hatte. In ihrem benommenen Zustand hatte sie nach Ernest und Steven gefragt und es sofort bereut, als sie sah, wie Nathanaels Miene sich verfinsterte. Es war ihr irgendwie über die Lippen gerutscht, weil in ihrem Kopf ein einziges Chaos herrschte.
Außerdem hatte sie das Telefonat mit Steven mehr aufgewühlt, als sie gedacht hatte. Ihr war klar geworden, dass ihrer Beziehung mit Steven etwas fehlte, etwas Wesentliches, von dem sie bisher vielleicht nicht einmal wusste, dass sie es wollte, auf das sie jetzt aber nicht mehr zu verzichten bereit war. Auch und gerade wegen ihrer Gefühle für Nathanael – mit dem sie ebenfalls reden musste, sobald sich die passende Gelegenheit ergab.
Als der Wagen an der 5. Straße nach links abbog, stutzte sie. Das war doch nicht die Richtung zu Ernests Haus. Konnte oder wollte Nathanael sich nicht mehr an ihre Bitte erinnern?
«Hey, wir müssen umdrehen. Zu meinem Bruder geht es da lang.» Ihre Stimme klang heiser und fremd. Es kratzte noch immer in ihrem Hals. Sie streckte den Arm zwischen den beiden Männern nach vorn und deutete nach links.
Der Latino blickte fragend zu Nathanael.
«Ist schon okay, Aaron», sagte Nathanael. Der Fahrer hieß also Aaron. Schon wieder ein biblischer Name.
Nathanael drehte sich zu ihr um. «Bei deinem Bruder bist du nicht sicher. Wir bringen dich …»
Tessa ließ ihn nicht ausreden. Sie war Nathanael dankbar für ihre Rettung. Dennoch konnte er nicht einfach über ihren Kopf hinweg anders entscheiden.
Ihr Bruder war sicher heute Nacht nicht telefonisch erreichbar, denn Schwester Bertha hatte gesagt, dass er mit einem Taxi ins Hospiz gefahren war.
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