Nathanael
Nathanael ihr zu.
Er öffnete eine Tür, hinter der ein schmaler Korridor lag, in dem es muffig roch. Eine Glühbirne baumelte von der Decke und spendete nur spärlich Licht. Nathanael ließ ihre Hand los und lief voraus.
Ungestört begutachtete Tessa seine Kehrseite. Alles, was sie sah, gefiel ihr, von den breiten Schultern angefangen, die schmalen Hüften und auch sein Hintern, den Hazel derb als «Knackarsch» bezeichnet hätte.
Steven hatte sie nie so ausgiebig betrachtet. Sein Verhandlungsgeschick und sein Wissen waren ihr immer wichtiger gewesen als Details seines Aussehens. Wenn sie so darüber nachdachte, wirkten alle Kollegen der Branche in ihren Nadelstreifenanzügen gleich. Konservativ dunkelgraue oder -blaue Maßanzüge von exklusiven Designern. Keiner hätte eine andere Farbe getragen oder ein buntes Hemd gewählt. Alles wirkte seriös und busy.
Nathanael hingegen kleidete sich mit einer sexy Lässigkeit, die seine charismatische Persönlichkeit unterstrich und ihn von allen anderen abhob. Immer mehr bekräftigte das ihren Entschluss, dass Steven nicht der Richtige für sie war. Seitdem sie Nathanael kannte, spürte sie, dass das Leben noch mehr zu bieten hatte als volle Terminpläne und Erfolg im Beruf. Ihr wurde bewusst, wie sehr sie das in gleichen Bahnen verlaufende Dasein betäubt und abgestumpft hatte. Wie sonst hätte ihr die Gefühlskälte ihrer Beziehung so entgangen sein können?
Durch Nathanael hatte sich ihr die Tür in eine andere Welt geöffnet, voller Emotionen und Lebendigkeit, selbst wenn sie noch so düster war.
Sein zerrissenes Shirt gab durch die Schlitze den Blick auf zwei rote Narben frei, die von den Flügeln stammten. Unwillkürlich streckte sie den Arm aus, zog ihn jedoch gleich wieder zurück. In seiner Nähe verspürte sie immer wieder das Bedürfnis, ihn zu berühren, und ersehnte sich von ihm das Gleiche.
Nathanael bog in einen weiteren Korridor, der zwar heller war, aber der Dielenboden knarrte unter ihren Füßen. Irgendwo tropfte Wasser auf Metall und ein Tier scharrte. Keine gerade gastliche Unterkunft, aber sie würde es überleben.
Tessa fühlte sich mit jedem Schritt erschöpfter und sie sehnte sich danach, auf ein Bett zu fallen und zu schlafen. Doch sie bezweifelte, dass sie in dieser ungewohnten und wenig attraktiven Umgebung Ruhe finden könnte. Wäre sie hier wirklich sicher?
Ja, an Nathanaels Seite schon.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, drehte er sich zu ihr um. «Cynthia ist eine Nephilim und Prophetin. Bevor jemand das Engelsghetto betritt, weiß sie davon. Nichts und niemand entgeht ihren Sinnen. Hier bist du sicherer als irgendwo sonst. Außerdem ist immer einer von uns Blutengeln hier.»
«Aha.» Nephilim, das waren doch Mischwesen. Aber Tessa war zu erschöpft, um das weiter zu hinterfragen.
Vor der Tür am Ende des Korridors blieb Nathanael stehen und klopfte an. Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er ein und Tessa schlurfte hinter ihm her.
Im Gegensatz zur Bar verströmte dieser Raum mit den antiken Polstermöbeln eine anheimelnde Atmosphäre.
«Hi, Cyn.» Tessa konnte Cynthia nicht sehen, weil Nathanael sie mit seiner hochgewachsenen Gestalt verdeckte.
«Warum versteckt sie sich hinter dir?», fragte eine tiefe, rauchige Frauenstimme, ohne seine Begrüßung zu erwidern.
Der Tonfall der Frau ärgerte Tessa. Sie trat nach vorn. «Ich verstecke mich nicht.»
Die tiefe Stimme passte so gar nicht zu der zierlichen Frau, die ihr jetzt gegenüberstand. Ihre Haare waren lila und schräg geschnitten, sodass sie ihre linke Gesichtshälfte verdeckten. In ihrer Oberlippe steckte ein Kugelpiercing. Tessa schätzte sie auf Mitte zwanzig, obwohl der Ausdruck in ihren Augen traurig und bitter wirkte, wie sie Menschen nur nach einem langen und entbehrungsreichen Leben besaßen.
«Du steckst ja mächtig in der Scheiße», sagte Cynthia Kaugummi kauend und legte den Kopf zur Seite. Dabei schwang ihr Haar zur Seite und entblößte rote, wulstige Narben, die sich über ihre gesamte linke Gesichtshälfte erstreckten. Tessa ließ sich nicht anmerken, wie sehr der Anblick sie erschütterte.
«Du wirst dich auch daran gewöhnen. Zuerst starren alle immer drauf», meinte Cynthia achselzuckend.
Tessa fühlte sich ertappt, ließ sich aber nichts anmerken. Gleichzeitig bewunderte sie Cynthia, die mit ihrem entstellten Gesicht locker umging. Ob die Narben von einem Unfall stammten? Die Höflichkeit gebot Tessa jedoch, nicht weiter zu fragen.
Es herrschte
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