Nathanael
aufzuschreien.
Tessa zwinkerte und sah aus weit geöffneten Augen verwundert zu ihm auf.
«Nathanael?», flüsterte sie. Aber er schwieg und wich ihrem Blick aus.
«Nathanael? Bist du das wirklich? Die Bilder, diese Stimme … in meinem Kopf dreht sich alles.» Ihre Hand legte sich auf seine Wange, so zärtlich, dass es wohlige Schauer bei ihm auslöste.
Er musste ihr zukünftig aus dem Weg gehen oder er könnte seine Gefühle nicht mehr kontrollieren. Genau dann begannen die Probleme, wenn Gefühle im Spiel waren.
«Nein, Tessa, du träumst nicht», sagte er rau.
Sie wollte etwas erwidern, aber ihre Antwort ging in einem Hustenanfall unter.
«Du hast vielleicht eine Rauchvergiftung. Ich werde dich …»
Sie schüttelte heftig den Kopf. «Nein, zu … keinem Arzt. Bitte, bring mich … hier … fort», flüsterte sie. «Zu … Ernest, meinem Bruder.» Immer wieder unterbrach sie sich, um zu husten. Dass dieser Ernest ihr Bruder war, erleichterte ihn.
«Wie soll er dich denn behandeln? Außerdem ist es bei ihm nicht sicher», widersprach er. Tessa schüttelte den Kopf.
«Im … Krankenhaus … auch nicht. Glaub … mir. Bitte, … bring … mich zu … meinem Bruder. Er … wird mir helfen.» Ihre Hand krallte sich in seinen Pullover.
Dennoch zögerte er mit einer Antwort. «So sicher wie in Sacred Hearts ?», fragte er schließlich.
«Bitte», hauchte sie.
«Tessa, bei deinem Bruder bist du auch nicht sicher, glaub mir», wandte er ein.
«Er … mein Bruder … hat schon … einmal einem … Mann … namens Aaron … geholfen …»
Nathanael erinnerte sich daran, dass Aaron damals bei einem Priester Zuflucht gefunden hatte. Sollte es tatsächlich Tessas Bruder gewesen sein? Das wäre wirklich ein Zufall.
Es gibt keine Zufälle, alles wird von Gott bestimmt , hörte er die Stimme seines Vaters im Kopf. Nathanael hasste diese Worte. Noch immer zögerte er, ihr zuzustimmen.
«Bitte. Bring … mich zu … ihm.»
Sie flüsterte die Adresse ihres Bruders. Also doch. Es musste der Priester sein, der Aaron in seiner Kirche Zuflucht gewährt hatte. Er verspürte ein ungutes Gefühl dabei, er konnte sie unmöglich vor einem Gefallenen beschützen. Andererseits, wo war sie in Sicherheit? Es gab keinen Ort in ganz New York, an dem sie gut aufgehoben wäre. Außer bei dir , meldete sich seine innere Stimme.
«Nein, das kann ich nicht verantworten. Es gibt nur einen Ort in ganz New York, an dem du wirklich sicher bist.» Er dachte an das Engelsghetto. Du willst sie nur in deiner Nähe wissen. Ja, verdammt, das wollte er.
«Aber … mein Bruder … Wenn er … von dem Brand … erfährt … Er wird sich sorgen … Verstehst du?»
«Warum rufst du ihn nicht an?»
«Er wird mich sehen wollen …, ob es mir auch wirklich gut geht. Nein, bring mich zu ihm.»
«Tessa, das geht nicht …» Er brach ab, als er merkte, wie ihr Körper erschlaffte und ihre Augen sich so verdrehten, dass er das Weiße darin sehen konnte. «Tessa?»
«In meinem Kopf fährt alles Karussell», murmelte sie.
Er sah den Rettungswagen und war einen Moment versucht, Tessa dorthin zu bringen. Aber dann verwarf er diesen Plan. Die Höllenbrut würde nicht so schnell aufgeben und sie im Krankenhaus finden, wo er sie nicht beschützen konnte.
Der dumpfe Druck in seiner Brust wollte nicht nachlassen. Düstere Gedanken fegten durch seinen Kopf. Er hatte eine Scheißangst davor, dass der Gefallene wieder versuchen würde, Tessa in einen Selbstmord zu treiben. Die Furcht, sie nicht beschützen zu können, machte ihn wahnsinnig.
Er wartete noch eine Weile, bis er sich sicher war, dass die Gaffer ihn nicht bemerkten, um sich mit Tessa in die Luft zu erheben.
«Schließ die Augen und öffne sie erst, wenn ich es dir sage.»
«Aber …?»
«Vertrau mir. Bitte.»
Hinter ihrer Stirn schien es fieberhaft zu arbeiten, aber sie nickte und schloss die Augen. Mit kraftvollen Schlägen trugen seine Schwingen sie immer höher hinauf in die Dunkelheit.
Nathanael flog weit abseits der Brooklyn Bridge, über Governors Island, auf das zur Nachtzeit verwaiste Financial Center zu, um nicht entdeckt zu werden. Weil er sich um Tessa sorgte, die zitternd vor Kälte in seinen Armen hing, beeilte er sich, Manhattan zu erreichen. Aber er war es nicht gewohnt, längere Strecken in diesem halsbrecherischen Tempo zu fliegen und merkte, wie seine Flügel immer schwerer wurden.
Endlich erreichte er sein Ziel. Von hier aus war es nicht mehr so weit bis zum Engelsghetto,
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